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27.09.2022
Internationales Steuerrecht

EuGH: Keine Berücksichtigungspflicht finaler Verluste im Fall einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte

Der EuGH hat entschieden, dass die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit keine Berücksichtigung finaler Verluste einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte beim deutschen Stammhaus erforderlich macht. Der Fall eines Besteuerungsverzichts aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens ist von einem unilateralen Besteuerungsverzicht abzugrenzen. 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine deutsche Wertpapierhandelsbank, unterhielt in den Wirtschaftsjahren 2004/2005 bis 2006/2007 eine Zweigniederlassung in Großbritannien, die keine Gewinne erzielte. Mitte 2007 wurde daher deren Betrieb eingestellt. Aufgrund der Schließung der Zweigniederlassung konnten die steuerlichen Verluste in Großbritannien nicht mehr vorgetragen werden.
Die Klägerin war der Auffassung, die der Zweigniederlassung zuzuordnenden Verluste seien trotz abkommensrechtlicher Freistellung der Einkünfte der Zweigniederlassung von der inländischen Besteuerung aus unionsrechtlichen Gründen als finale Verluste bei der Gewinnermittlung zu berücksichtigen. Das Finanzamt hatte die Verluste hingegen unberücksichtigt gelassen.
Der BFH kam zu dem Schluss, dass auf der Grundlage des nationalen deutschen Rechts die in der britischen Zweigniederlassung der Klägerin entstandenen Verluste in Deutschland nicht zu berücksichtigen sind. Nicht zuletzt aufgrund der wechselvollen Rechtsprechung des EuGH, sei jedoch unklar, ob sich eine Pflicht Deutschlands zur Berücksichtigung der „finalen“ Verluste einer im Ausland der EU belegenen Betriebsstätte aus der unionsrechtlich gewährleisteten Niederlassungsfreiheit ergeben könnte. Folglich legte der BFH dem EuGH diverse Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vor (vgl. EuGH-Vorlage vom 06.11.2019, I R 32/18, siehe Deloitte Tax News) und setzte das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aus.

Der Generalanwalt bestätigte in seinen Schlussanträgen vom 10.03.2022, dass unionsrechtlich keine Pflicht besteht, finale Verluste einer ausländischen DBA-Freistellungsbetriebsstätte beim deutschen Stammhaus zu berücksichtigen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 10,03.2022, C-538/20, siehe Deloitte Tax News).

Entscheidung

Mit Urteil vom 22.09.2022 schließt sich der EuGH der Auffassung des Generalanwalts an und bestätigt, dass die Niederlassungsfreiheit keine Berücksichtigung finaler Verluste einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte beim deutschen Stammhaus erforderlich macht. Folglich sind solche Verluste weder im Betriebsstättenstaat noch auf Ebene des Stammhauses abziehbar und gehen somit ungenutzt unter.

Die erste Vorlagefrage lautete (vereinfacht): Erfordert die Niederlassungsfreiheit eine Berücksichtigungspflicht finaler Verluste einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte auf Ebene des deutschen Stammhauses?

Der EuGH bestätigt zunächst, dass im Streitfall eine Ungleichbehandlung vorliegt: während die Verluste einer gebietsansässigen Betriebsstätte beim Stammhaus berücksichtigt werden können, besteht diese Möglichkeit nicht für Verluste einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte.

Zulässig sei eine solche Ungleichbehandlung nur, wenn sie objektiv nicht miteinander vergleichbare Situationen betrifft oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis dazu steht. Nach dem EuGH liegen im Streitfall keine objektiv vergleichbaren Sachverhalte vor. Der EuGH begründet dies unter Berufung auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. u.a. EuGH-Urteile vom 12.06.2018, C-650/16, “Bevola/Trock” und vom 17.12.2015, C-388/14, „Timac Agro“) und unterscheidet den Fall eines Besteuerungsverzichts aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens von einem unilateralen Besteuerungsverzicht. Während im DBA-Fall sich Gesellschaften mit einer Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht in einer Situation befinden, die mit der Situation von Gesellschaften mit einer gebietsansässigen Betriebsstätte vergleichbar sind, sei dies bei unilateraler Freistellung anders: Wenn das nationale Steuerrecht (trotz einer Besteuerungsbefugnis) selbst vorschreibt, Gewinne und Verluste gebietsfremder Betriebsstätten gebietsansässiger Gesellschaften (in bestimmten Fällen) nicht zu berücksichtigen, lägen vergleichbare Situationen vor.

Folglich liegt nach dem EuGH im Streitfall keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vor.

Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die Fragen 2 bis 5 (z.B. ob sich die Berücksichtigungspflicht finaler Verluste einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte auf Ebene des deutschen Stammhauses auch auf die deutsche Gewerbesteuer erstreckt) nicht zu beantworten.

Betroffene Normen

Art. 43 i.V.m. Art. 48 EG (jetzt Art. 49 i.V.m. Art. 54 AEUV), Art. 3 Abs. 1 S. 2 und Art. 18 Abs. 2 Buchst. a S. 1 DBA Großbritannien, § 7 S. 1 GewStG, § 9 Nr. 3 GewStG

Streitjahr 2007

Anmerkungen

Hintergrund

Haben zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit Freistellungsmethode für gebietsfremde Betriebsstätten abgeschlossen, sind die positiven wie auch die negativen Einkünfte der ausländischen Freistellungsbetriebsstätte im Inland von der Besteuerung ausgenommen. Strittig ist, ob bei sog. finalen Verlusten, die beispielsweise bei Einstellung des Geschäftsbetriebs der ausländischen Betriebsstätte auftreten und endgültig im anderen EU-Staat nicht mehr vorgetragen oder anderweitig verrechnet werden können, die Niederlassungsfreiheit einen grenzüberschreitenden Verlustabzug dennoch gebietet.

Mit dem Grundsatzurteil vom 13.12.2005 (C-446/03 „Marks & Spencer“) hatte der EuGH erstmalig das Konstrukt der „finalen“ Verluste konzipiert. In den vergangenen Jahren wurde die ursprüngliche Konzeption stetig novelliert, indem sie sowohl Erweiterungen als auch Einschränkungen erfuhr.

Im „Timac Agro“ Fall (vgl. EuGH-Urteil vom 17.12.2015, C-388/14) hatte der EuGH entschieden, dass die Verluste einer ausländischen DBA-Freistellungsbetriebsstätte, die aufgrund konzerninterner Veräußerung im Ausland nicht mehr nutzbar sind, nicht beim Stammhaus zu berücksichtigen sind.

Hingegen hatte der EuGH im Fall „Bevola/Trock“ (vgl. EuGH-Urteil vom 12.06.2018, C-650/16) einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit bejaht. Im damaligen Fall ging es um dänische Rechtsvorschriften, die es einer in Dänemark ansässigen Gesellschaft auch dann verwehrten, von ihrem steuerpflichtigen Gewinn Verluste abzuziehen, die ihrer in einem anderen Mitgliedstaat (hier Finnland) belegenen Betriebsstätte entstanden waren, wenn diese Verluste in diesem anderen Mitgliedstaat endgültig nicht mehr berücksichtigt werden konnten, sofern die in Dänemark ansässige Gesellschaft nicht eine Regelung der internationalen gemeinsamen Besteuerung (Option) gewählt hatte, was strengen Voraussetzungen unterlag. Dagegen hätte eine in Dänemark ansässige Gesellschaft diesen Abzug vornehmen können, wenn ihre Betriebsstätte sich in Dänemark befunden hätte.

Einordnung der Entscheidung

Mit dem oben dargestellten Urteil liegt nun eine (lang erwartete) Grundsatzentscheidung zu finalen Verlusten im Fall einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte vor. Vermutlich ist aber dennoch das letzte Kapital der finalen Verluste noch nicht geschrieben. Es stellen sich immer noch einige Fragen, z.B.:

1. Wann liegt eigentlich eine abkommensrechtliche Freistellung vor? In der deutschen Abkommenspolitik gibt es Aktivitätsklauseln, subject-to-tax Klauseln etc. Ein tatsächlich vollständiger Verzicht Deutschlands auf Besteuerungsrechte existiert eigentlich nicht.

2. Der EuGH liefert keine echte Begründung für seine These, wonach ein DBA-Besteuerungsverzicht die Vergleichbarkeit ausschließen soll, ein unilateraler Verzicht aber nicht. Interessant wäre hiernach, dass bei der Gewerbesteuer finale Verluste noch zu berücksichtigen wären, mindestens sofern nicht ein sowohl unilateraler als auch abkommensrechtlicher Besteuerungsverzicht vorliegt.

3. Schließlich bleibt der noch nicht im Detail ausgeleuchtete Bereich der EU-Grundrechtecharta: Nach Art. 20 der EU-Grundrechtecharta gilt, ähnlich wie nach Art. 3 GG, im Steuerrecht das Leistungsfähigkeitsprinzip. Es kann zumindest diskutiert werden, ob dieses Leistungsfähigkeitsprinzip nicht eine Berücksichtigung finaler Verluste erfordert.

Daher ist zu erwarten, dass die Gerichte auch in der Zukunft noch die Gelegenheit haben werden, sich mit dem Konstrukt und den Auswirkungen der finalen Verluste zu beschäftigen.

Vorinstanz

BFH, EuGH-Vorlage vom 06.11.2019, I R 32/18, siehe Deloitte Tax News

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-538/20

Weitere Fundstellen

EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 10,03.2022, C-538/20, siehe Deloitte Tax News 

EuGH, Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, „Marks & Spencer“, DStR 2005, S. 2168

EuGH, Urteil vom 17.12.2015, C-388/14, „Timac/Agro“, BStBl. II 2016, S. 362, siehe Deloitte Tax News 

EuGH, Urteil vom 12.06.2018, C-650/16, „Bevola/Trock“, DStR 2018, S. 1353, siehe Deloitte Tax News

Ihr Ansprechpartner

Alexander Linn
Partner

allinn@deloitte.de
Tel.: +49 89 2903 68558

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