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26.02.2014
Unternehmensteuer

BVerfG: Rückwirkende Klarstellung des geltenden Rechts kann verfassungsrechtlich unzulässig sein

Ein Gesetz, durch das eine offene Auslegungsfrage für die Vergangenheit geklärt werden soll, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutive Regelung anzusehen, wenn die ursprüngliche Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte. Auch „Klarstellungen“ des Inhalts geltenden Rechts für die Vergangenheit sind daher aus Vertrauensschutzgründen nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung zulässig.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine Bank, hielt in ihrem Umlaufvermögen Anteile an Investmentfonds, deren Börsenkurse am 31.12.2002 unter die Buchwerte des Jahresabschlusses 2001 gesunken waren. Sie nahm gewinnmindernde Abschreibungen vor und behandelte diese zunächst als steuerlich wirksam.

In der zweiten Jahreshälfte 2003 nahm sich der Gesetzgeber eines Auslegungsproblems zur ertragsteuerlichen Berücksichtigungsfähigkeit von Gewinnminderungen bei Fondsbeteiligungen an. Mit dem „Korb II“-Gesetz wurde am 22.12.2003 eine ausdrückliche Verweisung auf § 8b Abs. 3 KStG in den § 40a Abs. 1 S.2 KAGG eingefügt, nach der § 8b Abs. 3 KStG auch für Kapitalanlagegesellschaften Anwendung findet. Diese nach Begründung des Regierungsentwurfs „redaktionelle Klarstellung“ sollte gem. § 43 Abs. 18 KAGG für alle noch offenen Veranlagungszeiträume anzuwenden sein.

Die Klägerin reichte daraufhin eine geänderte Steuererklärung für das Jahr 2002 ein (außerbilanzielle Gewinnerhöhung um die vorgenommenen Abschreibungen), berief sich aber auf die Verfassungswidrigkeit der Rückwirkung. Nach erfolglosem Einspruch erhob die Bank Klage. Das angerufene FG hielt § 43 Abs. 18 KAGG für verfassungswidrig, weil die neue Fassung des § 40a Abs. 1 KAGG nicht lediglich klarstellend sei, sondern eine unzulässige echte Rückwirkung entfalte und legte diese Norm dem BVerfG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor.

Entscheidung

§ 43 Abs. 18 KAGG sei verfassungswidrig und nichtig, soweit er die rückwirkende Anwendung des § 40a Abs. 1 S. 2 KAGG in den Veranlagungszeiträumen 2001 und 2002 anordne.

§ 43 Abs. 18 KAGG habe § 40a Abs. 1 S. 2 KAGG für die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002
mit echter Rückwirkung in Kraft gesetzt. Die – z.B. in einem Regierungsentwurf vertretene – Auffassung, dass eine Regelung lediglich klarstellenden Charakter habe, sei für die Gerichte nicht bindend. Die verbindliche Auslegung einer Norm, auch hinsichtlich der Frage, ob sie konstitutive oder deklaratorische Wirkung habe, sei grundsätzlich Aufgabe der Gerichte.

Eine rückwirkende Regelung sei aus verfassungsrechtlicher Sicht (bereits) dann als konstitutiv zu behandeln, wenn die geänderte Norm – was vorliegend der Fall sei – in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte.

Rückwirkende Klarstellungen seien jedoch grundsätzlich nur in den durch das Rückwirkungsverbot vorgegebenen Grenzen verfassungsrechtlich anzuerkennen, um den Schutz des Vertrauens in die Stabilität des Rechts nicht erheblich zu schwächen. Andernfalls könne der Gesetzgeber wegen der allgemeinen Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechts regelmäßig einen „Klarstellungsbedarf“ begründen.

Das Rückwirkungsverbot gelte nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war. Von den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Fallgruppen kämen hier nur diejenigen der Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage oder ihrer Systemwidrigkeit und Unbilligkeit in Betracht. Alleine die Tatsache, dass es noch keine höchstrichterliche Auslegung einer Norm gebe und die Rechtsprechung auf Ebene der Finanzgerichte uneinheitlich sei, begründe noch keine – den Vertrauensschutz beseitigende – „verworrene Rechtslage“. Andernfalls könne es in den Anfangsjahren einer gesetzlichen Neuregelung nie ein schutzwürdiges Vertrauen geben, das rückwirkenden Änderungen entgegenstehen könnte.

Hielte das Bundesverfassungsgericht – wie hier – eine rückwirkende gesetzliche „Klarstellung“ für verfassungswidrig und nichtig, hätten die Fachgerichte die hiervon betroffenen Streitfälle nach der alten
Rechtslage durch Auslegung zu entscheiden. Die höchstrichterliche Klärung durch den BFH könne vorliegend ergeben, dass die Norm so zu verstehen sei, wie es der Gesetzgeber nachträglich „klarstellen“ wollte.

Betroffene Normen

§ 43 Abs. 18 KAGG, § 40a Abs. 1 S. 2 KAGG, § 8b Abs. 3 KStG
Streitjahr 2002

Anmerkungen

BVerfG-Richter Masing, der eine abweichende Meinung zu dem BVerfG-Beschluss vom 17.12.2013 vertritt, macht in einem Sondervotum u.a. die Bedeutung der Entscheidung deutlich: Entgegen ihrem ersten Anschein betreffe die Entscheidung nicht fachrechtliche Spezialprobleme, sondern grundsätzliche Fragen zur Reichweite der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers für unklare, offengebliebene Rechtsfragen der Vergangenheit.

Richter Masing hält den Beschluss des BVerfG insoweit für fragwürdig, als dem Gesetzgeber so eine Regelung verboten werde, die die Fachgerichte durch Auslegung ohne weiteres herbeiführen dürften. Die Entscheidung leuchte zudem weder funktional noch praktisch ein: Angesichts der immer komplexer werdenden Anforderungen an die Gesetzgebung könne nicht ernsthaft erwartet werden, dass alle Zweifelsfragen, Missverständnisse und sinnwidrigen Praktiken, die eine Neuregelung hervorbringe, stets von vornherein überschaut werden können. Eine rückwirkende Klarstellung durch den Gesetzgeber könne hier unter Umständen mit einem Schlag unmittelbar alle offenen Streitfälle einheitlich lösen und Rechtssicherheit schaffen. Als Folge der Entscheidung müssten demgegenüber nun alle angefallenen Zweifelsfälle – gegebenenfalls mit hohen Kosten und über lange Zeiträume vor Gericht durch die Instanzen prozessiert werden.

Fundstellen

BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013, 1 BvL 5/08
Pressemitteilung Nr. 12/2014 vom 20.02.2014

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