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06.12.2010
Verfahrensrecht

BFH: Vorläufigkeitsvermerk und Teileinspruchsentscheidung

Sachverhalt

Gegen den Einkommensteuerbescheid 2005, der mit einem Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO versehen war, legte der Kläger Einspruch ein und bat, ihm die von den Vorläufigkeitsvermerken umfassten Verfahren und Rechtsfragen mitzuteilen, damit die Reichweite der Vorläufigkeitsvermerke im vorliegenden Fall klar feststehe und weil ein Vorläufigkeitsvermerk nicht den gleichen Rechtsschutz wie ein Einspruch biete. Des Weiteren beantragte er Ruhen des Verfahrens, da das Verfahren zu der Frage, ob die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als vorweggenommene Werbungskosten abziehbar sind, vor dem BFH (Urteil vom 18.11.2009) anhängig ist. Das Finanzamt erließ eine Teileinspruchsentscheidung und gewährte Ruhen des Verfahrens bzgl. des BFH-Verfahrens X R 9/07. Den Einspruch hinsichtlich des Vorläufigkeitsvermerks wies es als unbegründet zurück, da sowohl Grund als auch Umfang der Vorläufigkeit in den Erläuterungen zum Bescheid angegeben seien.

Streitig sind die inhaltliche Bestimmtheit von Vorläufigkeitsvermerken und die Voraussetzungen für den Erlass einer Teileinspruchsentscheidung.

Entscheidung

Die Vorläufigkeitsvermerke sind inhaltlich hinreichend bestimmt. Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO kann die Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind. Diese Regelung ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auch anzuwenden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Welche Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit einer vorläufigen Festsetzung zu stellen sind, ergibt sich aus § 165 Abs. 1 Satz 3 AO. Danach sind Umfang und Grund der Vorläufigkeit anzugeben. Aus den Vorläufigkeitsvermerken ergibt sich der Umfang der Vorläufigkeit hinreichend deutlich. Die Auswirkung der Vorläufigkeit auf die Steuerfestsetzung muss nicht betragsmäßig angegeben werden. Hierdurch ist auch der Änderungsrahmen eines Einspruchsverfahrens bestimmt, das sich gegebenenfalls anschließt, wenn ein Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid nicht mehr enthalten ist oder wenn das Finanzamt die Festsetzung von sich aus oder auf Antrag des Steuerpflichtigen für endgültig erklärt (§ 165 Abs. 2 Sätze 2 und 4 AO). Es ist auch nicht unklar, ob die Vorläufigkeitsvermerke nur bereits anhängige oder auch künftig anhängig werdende Verfahren betreffen. Die Vorläufigkeitsvermerke waren nicht beschränkt auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung anhängigen Verfahren. Eine solche Einschränkung ergibt sich auch nicht aus § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Danach ist tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Vorläufigkeit, dass die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand (mindestens) eines Verfahrens bei dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Hat sich das Verfahren, das Anlass für die vorläufige Festsetzung war, in welcher Weise auch immer erledigt, bleibt der Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gleichwohl erfüllt, wenn inzwischen ein anderes einschlägiges Verfahren anhängig geworden ist.

Ebenso wenig ist unklar, wie lang der künftige Zeitraum, in dem neue Gerichtsverfahren zu berücksichtigen sind, zu bemessen ist und wann die Ungewissheit endet. Sind die Verfahren, die der vorläufigen Festsetzung zugrunde liegen, auf welche Weise auch immer beendet, ist die Rechtsgrundlage für ein Aufrechterhalten des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, d.h. die Ungewissheit im Sinne dieser Vorschrift entfallen, selbst wenn die betreffende Rechtsfrage noch nicht entschieden ist. Ob und wann das Finanzamt eine vorläufige Festsetzung für endgültig erklärt, steht in seinem Ermessen. In der Regel bleibt die Festsetzung daher, wenn der Steuerpflichtige einen solchen Antrag nicht stellt, formal weiterhin vorläufig. Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist (vor Ablauf von zwei Jahren nach Beseitigung der Ungewissheit und Kenntnis der Finanzbehörde hiervon, § 171 Abs. 8 Satz 2 AO) ein weiteres einschlägiges Verfahren anhängig, hat die angeordnete Vorläufigkeit wieder eine Rechtsgrundlage; die Festsetzung bleibt weiterhin vorläufig. Dass bei Erlass des vorläufigen Steuerbescheides der konkrete Zeitpunkt nicht bekannt ist, zu dem die Ungewissheit entfällt, liegt in der Natur der Sache und kann die Rechtswidrigkeit oder gar Nichtigkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nicht begründen. Der Grund der Vorläufigkeit ist aus den Vorläufigkeitsvermerken ebenfalls ersichtlich. Es ist nicht erforderlich, dass die dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegenden Verfahren im Einzelnen bezeichnet werden.

§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO schränkt den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen nicht in verfassungswidriger Weise ein. Der Steuerpflichtige wird nicht dadurch in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beschränkt, dass sich der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht auf alle denkbaren Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts erstreckt. Denn der Steuerpflichtige kann mit dem Einspruch gegen die Steuerfestsetzung Fragen der Auslegung einfachen Rechts geltend machen und ggf. das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zum Ruhen bringen, so wie es im Streitfall wegen der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften i.S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG geschehen ist. Der Steuerpflichtige erleidet auch keine unzumutbaren Rechtsnachteile, wenn die materiell-rechtliche Frage in dem Musterverfahren nicht in seinem Sinne oder - z.B. wegen Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wegen Abhilfe oder wegen Rücknahme - überhaupt nicht geklärt wird. Denn er kann nach Erledigung des Musterverfahrens gemäß § 165 Abs. 2 Satz 4 AO beantragen, dass die Steuerfestsetzung für endgültig erklärt wird, und gegen die dann auch insoweit endgültige Festsetzung Einspruch einlegen und ggf. anschließend Klage erheben zur weiteren verfassungsrechtlichen Klärung. Erklärt die Finanzbehörde die vorläufige Festsetzung für endgültig oder entfällt ein Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid, sind ebenfalls Einspruch und ggf. Klage möglich.

Die Entscheidung des Finanzamts, eine Teileinspruchsentscheidung zu erlassen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Finanzbehörde hat auf den Einspruch des Steuerpflichtigen die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen und eine abschließende Einspruchsentscheidung zu erlassen. Sie kann aber vorab über Teile des Einspruchs entscheiden, wenn dies sachdienlich ist. In dieser Entscheidung hat sie zu bestimmen, hinsichtlich welcher Teile Bestandskraft nicht eintreten soll (§ 367 Abs. 2a Satz 2 AO). Der Erlass der Teileinspruchsentscheidung war entgegen der Auffassung des FG sachdienlich. Nach den Gesetzesmaterialien soll § 367 Abs. 2a AO den Finanzbehörden ermöglichen, in einer förmlichen Einspruchsentscheidung zunächst nur über Teile des Einspruchs zu befinden. Dies sei insbesondere dann sinnvoll, wenn ein Teil des Einspruchs entscheidungsreif sei und hinsichtlich des anderen Teils, z.B. nach der Entscheidung in einem beim BFH anhängigen Verfahren, eine einvernehmliche Lösung des Rechtsstreits erwartet werden könne. Auf diese Weise könne der Steuerpflichtige hinsichtlich des entscheidungsreifen Teils seines Einspruchs schnelleren gerichtlichen Rechtsschutz erlangen. Es liege sowohl im Interesse des Steuerpflichtigen als auch im Interesse der Finanzverwaltung, wenn über den entscheidungsreifen Teil zeitnah entschieden werde. Die Teileinspruchsentscheidung ist als Instrument zur Bewältigung von Masseneinsprüchen im Hinblick auf Musterverfahren geschaffen worden. Es entspricht daher dem mit der Vorschrift verfolgten Zweck und ist deshalb sachdienlich, eine Teileinspruchsentscheidung zu erlassen, wenn Teile des Einspruchs entscheidungsreif sind und der Einspruch ersichtlich nur zu dem Zweck eingelegt wird, die Steuerfestsetzung nicht bestandskräftig werden zu lassen. Auch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet es nicht, Einspruchsverfahren möglichst lange offen zu halten, damit der Steuerpflichtige an künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht streitigen Rechtsfragen teilhaben kann. Das Finanzamt hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck des § 367 Abs. 2a AO ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten (§ 5 AO). Es hat seine Ermessensentscheidung auch ausreichend begründet und in der Einspruchsentscheidung dargelegt, warum der Erlass der Teileinspruchsentscheidung sachdienlich ist.

Betroffene Norm

§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO
Streitjahr 2005

Vorinstanz

Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 12.12.2007, 7 K 249/07, Zusammenfassung siehe Deloitte Tax-News

Fundstelle

BFH, Urteil vom 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, S. 11 

Weitere Fundstellen

BFH, Urteil vom 18.11.2009, X R 9/07, BFH/NV 2010, S. 412

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