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09.10.2023
Indirekte Steuern/Zoll

EuGH: Direktanspruch trotz zivilrechtlicher Verjährung

​Der EuGH hat die Reichweite des Direktanspruchs konkretisiert.

Hintergrund

Weist ein leistender Unternehmer in einer Rechnung unzutreffend Umsatzsteuer aus und bezahlt der Leistungsempfänger an ihn den Umsatzsteuerbetrag, ist dem Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug zu versagen. Begehrt der Leistungsempfänger die Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer, muss er den Mehrbetrag zivilrechtlich vom Leistenden zurückfordern. Ist die Durchsetzung des zivilrechtlichen Erstattungsanspruchs des Leistungsempfängers gegen den Leistenden hingegen unmöglich oder übermäßig erschwert, da bspw. der Unternehmer zahlungsunfähig ist, kann der Leistungsempfänger, der eine gesetzlich nicht entstandene, aber in einer Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer bezahlt hat, die Rückerstattung unmittelbar vom Finanzamt verlangen (sogenannter „Direktanspruch“; EuGH, Urt. v. 15.03.2007, C-35/05, Reemtsma; vgl. auch EuGH, Urt. v. 26.04.2017, C-564/15, Farkas; Urt. v. 11.04.2019, PORR, C-691/17; Urt. 10.07.2019, C-273/18, Kuršu zeme, EuGH, Urt. v. 13.10.2022, C-397/21, HUMDA). Der BFH hat sich der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen (BFH, Urt. v. 30.06.2015, VII R 30/14, BStBl. II 2022, 246). In dem vorliegenden Verfahren ging es darum, ob eine noch mögliche Rechnungsberichtigung des leistenden Unternehmers, wegen der unrichtig ausgewiesenen Steuer, den Direktanspruch ausschließt. Sofern das nicht der Fall ist, stellte sich die weitere Frage, ob die Voraussetzung der unmöglichen oder übermäßig erschwerten Durchsetzung des Rückzahlungsanspruchs erfüllt ist, wenn der leistende Unternehmer sich gegenüber dem Kläger auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung beruft und die Rechnungsberichtigung und Erstattung des zu viel bezahlten Mehrwertsteuerbetrages verweigert. Im Zusammenhang mit dem möglichen Bestehen des Direktanspruchs ging es außerdem um die Frage einer möglichen Verzinsung. Höchstrichterlich sind diese Fragen bislang nicht geklärt. Die Finanzverwaltung vertritt die Auffassung, dass der Direktanspruch ausgeschlossen ist, solange der Leistende eine Rechnungsberichtigung vornehmen kann. Das gilt auch für den Fall, dass der zivilrechtliche Anspruch bereits verjährt ist (zu den zahlreichen Ausschlussgründen des Direktanspruchs, siehe BMF, Schreiben v. 12.04.2022, III C 2 - S 7358/20/10001 :004, BStBl. I 2022, 652, Rz. 13; vgl. Deloitte Tax News). Das FG Münster zweifelte an dieser restriktiven Auffassung der Finanzverwaltung und wandte sich mit dem vorliegenden Sachverhalt im Wege des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH. 

Sachverhalt

Der Kläger betreibt einen Holzhandel. Die Lieferanten des Klägers wiesen 19 % Umsatzsteuer in ihren Rechnungen aus. Der Kläger bezahlte die Rechnungen und machte den Vorsteuerabzug geltend. Infolge einer Betriebsprüfung versagte das Finanzamt den Vorsteuerabzug in Höhe der Differenz zwischen Regel- und ermäßigten Steuersatz (12%), da die Eingangsleistungen dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Der Kläger verlangte von seinen Lieferanten die Rechnungsberichtigung und Auszahlung des Differenzbetrages. Die Lieferanten machten dagegen die zivilrechtliche Einrede der Verjährung geltend. Daraufhin beantragte der Kläger unter Berufung auf die vom EuGH im Fall Reemtsma entwickelten Grundsätze beim Finanzamt erfolglos, ihm die Differenzbeträge nebst Zinsen im Billigkeitswege zu erlassen.

Nach Ansicht des FG Münster könnte die Gefahr einer Doppelerstattung dem Direktanspruch entgegenstehen. Die Gefahr liegt darin, dass die Lieferanten des Klägers ihre Rechnungen später berichtigen und von ihren Finanzämtern den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangen können (§ 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i.V.m. § 17 UStG). Die Finanzbehörden müssten vom Kläger dann die Rückzahlung des Erstattungsbetrags verlangen. Wenn der Kläger diesen Betrag nicht zurückzahlen kann, hätten die Finanzbehörden die Umsatzsteuer zweifach erstattet. Nach Ansicht des FG Münster hätte der Kläger daher rechtzeitig Maßnahmen zur Sicherung seiner zivilrechtlichen Ansprüche gegen seine Lieferanten ergreifen müssen, z.B. hätte er seine Lieferanten zur Abgabe einer Einredeverzichtserklärung auffordern müssen. 

Vorlagefrage

Folgt aus dem Neutralitäts- und Effektivitätsgrundsatz, dass einem Leistungsempfänger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten MwSt einschließlich Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn die Finanzbehörde von den Vorlieferanten aufgrund einer späteren Rechnungsberichtigung in Anspruch genommen werden kann und die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörde dieselbe MwSt zweimal erstatten muss?

Entscheidung des EuGH

Einem Leistungsempfänger steht ein Anspruch auf Erstattung der ihm zu Unrecht in Rechnung gestellten MwSt nebst Zinsen unmittelbar gegen die Steuerbehörde zu, wenn der Leistungsempfänger die Erstattung wegen Verjährung nicht mehr vom Lieferer verlangen kann. Dies gilt, wenn kein Betrugs- oder Missbrauchsfall vorliegt und dem Leistungsempfänger kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann. Die Möglichkeit, dass der Lieferer nach der Rechnungsberichtigung die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags von der Steuerbehörde verlangen kann, steht dem Direktanspruch nicht entgegen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene MwSt nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.

Anmerkung

Der von der Finanzverwaltung vertretene grundsätzliche Ausschluss des Direktanspruchs für den Fall der Erhebung der zivilrechtlichen Verjährung ist unionsrechtswidrig. Eine Versagung des Direktanspruchs allein aufgrund der vom Lieferer erhobenen zivilrechtlichen Einrede der Verjährung kommt nach dem EuGH einer unverhältnismäßigen, neutralitätswidrigen Sanktionierung gleich. Der Direktanspruch ist lediglich ausgeschlossen, wenn er in betrügerischer Weise oder rechtsmissbräuchlich geltend gemacht wird.

Der EuGH stellt klar, dass die fehlende Insolvenz der Lieferer dem Direktanspruch nicht entgegensteht. Denn die Insolvenz stellt nur einen, der bislang vom EuGH nicht abschließend definierten Fälle der unmöglichen oder übermäßig erschwerten Durchsetzung des Anspruchs auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten MwSt dar.

Ebenso verneint der EuGH die Gefahr der doppelten Erstattung der MwSt. Vielmehr ginge die Erstattung der MwSt an die Lieferer, die gegenüber dem Leistungsempfänger zuvor durch die Erhebung der Einrede der zivilrechtlichen Verjährung ihr fehlendes Interesse an einer Berichtigung formulierten, mit einem ungerechtfertigten Steuervorteil einher. Mit der Geltendmachung der Einrede der Verjährung gegen den zivilrechtlichen Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers drückten die Lieferer ihr einer Berichtigung zuwiderlaufendes Interesse aus. Berichtigten die Lieferer ihre Rechnungen nachträglich und verlangten sie von der Finanzverwaltung die Erstattung, nachdem das Finanzamt dem Leistungsempfänger, den zu viel gezahlten Betrag erstattet hat, verhielten sie sich rechtsmissbräuchlich.

Ein Direktanspruch besteht daher auch, wenn der zivilrechtliche Anspruch des Leistungsempfängers gegen den leistenden Unternehmer verjährt ist. Die vom EuGH als unionsrechtswidrig beurteilte Auffassung der Finanzverwaltung ist damit obsolet. Das BMF-Schreiben vom 12. April 2022 bedarf der Anpassung. Betroffene Leistungsempfänger können sich in vergleichbaren Konstellationen unmittelbar auf die EuGH-Rechtsprechung im Fall Schütte berufen.

Wie umstritten die Voraussetzungen des Direktanspruchs sind, belegt ein weiteres derzeit beim EuGH anhängiges Vorabentscheidungsverfahren (BFH, EuGH-Vorlage v. 03.11.2022, XI R 6/21; Az. EuGH: C-83/23, H-GmbH). Im Fall H-GmbH konnte der Leistungsempfänger seinen Rückzahlungsanspruch wegen der Insolvenz des leistenden Unternehmers nicht durchsetzen. Die Besonderheit des EU-grenzüberschreitenden Falles liegt darin, dass der Leistende statt der deutschen Umsatzsteuer die italienische Umsatzsteuer in den Rechnungen hätte ausweisen müssen. Fraglich ist daher, ob ein Direktanspruch besteht oder nur ein Anspruch auf Erteilung einer zutreffenden Rechnung mit italienischer USt. 

Vorinstanz

FG Münster, Beschluss vom 27. Juni 2022, 15 K 2327/20 AO

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 07.09.2023, C-453/22, Schütte​ 

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