Aktuell:
BFH-Vorlage vom 06.11.2019, I R 32/18:
Trotz mehrerer Entscheidungen des EuGH zur Problematik von sog. finalen Verluste einer DBA-Freistellungsbetriebsstätte ist die Grundsatzfrage der Berücksichtigungspflicht solcher Verluste auf Ebene des deutschen Stammhauses nach Unionsrecht noch nicht hinreichend geklärt. Gleiches gilt für einige mit der Beurteilung der Kriterien der Finalität und der Höhe der ggf. zu berücksichtigenden Verluste zusammenhängende Fragen. Vor diesem Hintergrund hat der BFH dem EuGH diverse Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die Klägerin, eine deutsche Wertpapierhandelsbank, unterhielt in den Wirtschaftsjahren 2004/2005 bis 2006/2007 (abweichendes Wirtschaftsjahr) eine Zweigniederlassung in Großbritannien, die keine Gewinne abwarf. Mitte 2007 wurde daher deren Betrieb eingestellt. Aufgrund der Schließung der Zweigniederlassung konnten die steuerlichen Verluste in Großbritannien nicht mehr vorgetragen werden. Die Klägerin war der Auffassung, die der Zweigniederlassung zuzuordnenden Verluste seien trotz abkommensrechtlicher Freistellung der Einkünfte der Zweigniederlassung von der inländischen Besteuerung aus unionsrechtlichen Gründen als finale Verluste bei der Gewinnermittlung zu berücksichtigen. Das Finanzamt hat die Verluste hingegen unberücksichtigt gelassen. Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg.
Der BFH legt dem EuGH diverse Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vor und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aus.
Hintergrund – nationales Recht
Auf der Grundlage des nationalen deutschen Rechts sind die in der britischen Zweigniederlassung der Klägerin entstandenen Verluste nach Auffassung des BFH nicht zu berücksichtigen. Fraglich ist jedoch, ob sich eine Pflicht Deutschlands zur Berücksichtigung der „finalen“ Verluste einer im Ausland der EU belegenen Betriebsstätte aus der unionsrechtlich gewährleisteten Niederlassungsfreiheit ergeben könnte.
EuGH-Rechtsprechung
Die vielfach und zudem kontrovers entschiedene Thematik hat ihren Ursprung im Grundsatzurteil des EuGH vom 13.12.2005 „Marks & Spencer“ (C-446/03), in dem der EuGH erstmalig das Konstrukt der „finalen“ Verluste konzipierte. In den vergangenen Jahren wurde die ursprüngliche Konzeption stetig novelliert, indem sie sowohl Erweiterungen als auch Einschränkungen erfuhr. Während der EuGH im „Timac Agro“ Fall und der BFH in seinem Umsetzungsurteil (EuGH-Urteil vom 17.12.2015, C-388/14; BFH-Urteil vom 22.02.2017, I R 2/15) den Abzug auch „finaler“ Verluste von Auslandsbetriebsstätten bei abkommensrechtlicher Freistellung noch ausgeschlossen hatten, macht der EuGH in seinem Urteil vom 12.06.2018 „Bevola/Trock“ (C-650/16) wieder eine Kehrtwende.
Der BFH sieht daher die Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens in fünf Fragen, da der Grundsatz der Berücksichtigungspflicht von „finalen“ Verlusten ausländischer Freistellungsbetriebsstätten, die Höhe der ggfs. zu berücksichtigenden Verluste und ferner das Kriterium der „Finalität“ nicht hinreichend geklärt seien.
Erste Vorlagefrage – DBA-Freistellungsbetriebsstätte
Der BFH bittet den EuGH zunächst die Grundsatzfrage zu prüfen, ob die Niederlassungsfreiheit eine Pflicht zur Berücksichtigung finaler Verluste einer Freistellungsbetriebsstätte nach DBA auf Ebene des deutschen Stammhauses erfordert.
Mit Urteil vom 12.06.2018 (C-650/16, „Bevola/Trock“) hat der EuGH zu einer unilateralen Bestimmung des nationalen dänischen Steuerrechts, mit welcher bei dänischen Gesellschaften mit ausländischen Betriebsstätten eine Doppelbesteuerung der Gewinne und – symmetrisch dazu – ein doppelter Abzug der Verluste vermieden werden soll, entschieden, dass eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit anzunehmen ist, die zur Berücksichtigung finaler Verluste der ausländischen Betriebsstätten führt. Ein Teil der deutschen Literatur und auch das dem vorliegenden Verfahren beigetretene BMF sehen hingegen einen wesentlichen Unterschied zwischen dem „Bevola/Trock“ Fall und dem hier zu beurteilenden Sachverhalt in dem Umstand, dass es sich bei der dänischen Regelung um eine unilaterale Bestimmung des dänischen nationalen Steuerrechts handelt, wohingegen die abkommensrechtliche Zuordnung der Betriebsstätteneinkünfte nach dem DBA-Methodenartikel eine bilaterale Regelung zum Zweck der zwischenstaatlichen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse ist. Im hier vorliegenden Fall der Vereinbarung der Freistellungsmethode gemäß DBA-Großbritannien verzichtet Deutschland gegenüber Großbritannien auf die Ausübung seines Besteuerungsrechts in Bezug auf die Einkünfte, die durch die in Großbritannien belegenen Betriebsstätten erzielt werden.
Zweite Vorlagefrage – Gewerbesteuer
Falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist, legt der BFH dem EuGH die weitere Frage vor, ob sich die aus der Niederlassungsfreiheit abzuleitende Pflicht des Ansässigkeitsstaats des Stammhauses der Gesellschaft zur Berücksichtigung finaler Verluste einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte auch auf die deutsche Gewerbesteuer erstreckt.
Unter der Prämisse, die unionsrechtlich gewährleistete Niederlassungsfreiheit erfordere im Rahmen der körperschaftsteuerlichen Gewinnermittlung die Berücksichtigung finaler Verluste aus in anderen EU-Mitgliedstaaten belegenen Betriebsstätten, hat der BFH die Auffassung vertreten, dass die durch die ausländischen Betriebsstätten verursachten finalen Verluste auch die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer mindern müssten (vgl. BFH-Urteil vom 09.06.2010, I R 107/09). Diese Rechtsprechung ist von der deutschen Finanzverwaltung und Teilen des Schrifttums kritisiert worden, so dass der BFH es für geboten hält, die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Dritte Vorlagefrage
Der BFH bittet den EuGH ferner zu prüfen, ob im Falle der Schließung der in dem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte finale Verluste auch dann vorliegen können, wenn zumindest die theoretische Möglichkeit besteht, dass die Gesellschaft erneut eine Betriebsstätte in dem betreffenden Mitgliedstaat eröffnet, mit deren Gewinnen die früheren Verluste ggf. verrechnet werden könnten.
Nach der BFH-Rechtsprechung sind die Verluste einer ausländischen Betriebsstätte dann „final“ i.S. der Rechtsprechung des EuGH, wenn die Verluste im Quellenstaat aus tatsächlichen Gründen nicht mehr berücksichtigt werden können oder ihr Abzug in jenem Staat zwar theoretisch noch möglich, aus tatsächlichen Gründen aber so gut wie ausgeschlossen ist und ein wider Erwarten dennoch erfolgter späterer Abzug im Inland verfahrensrechtlich noch rückwirkend nachvollzogen werden könnte (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 09.06.2010, I R 107/09 und vom 05.02.2014, I R 48/11). Als "tatsächliche" Umstände, die im Betriebsstättenfall zur Finalität führen können, hat der BFH insbesondere die Umwandlung der Betriebsstätte in eine Kapitalgesellschaft, ihre entgeltliche oder unentgeltliche Übertragung oder ihre endgültige Aufgabe angesehen.
Ob an den zuvor genannten Kriterien für die „Finalität“ der Verluste festgehalten werden kann, erscheint indessen auf der Grundlage der neueren EuGH-Rechtsprechung aus Sicht des BFH nicht frei von Zweifeln. Denn der EuGH hat mit seinen Urteilen vom 19.06.2019 (C-607/17, „Memira Holding“ und C-608/17, „Holmen“) entschieden, dass die Verluste ausländischer Tochtergesellschaften auch dann nicht als endgültig anzusehen sind, wenn weiterhin eine Möglichkeit besteht, diese Verluste wirtschaftlich zu nutzen, indem sie auf einen Dritten übertragen werden.
Vierte Vorlagefrage
Sofern die erste und die dritte Frage zu bejahen sind, legt der BFH dem EuGH die weitere Frage vor, ob als zu berücksichtigende finale Verluste auch jene Verluste der Betriebsstätte in Betracht kommen, die nach dem Recht des Belegenheitsstaats der Betriebsstätte mindestens einmal in einen nachfolgenden Veranlagungszeitraum vorgetragen werden konnten.
Das dem vorliegenden Verfahren beigetretene BMF ist dabei der Auffassung, als zu berücksichtigende finale Verluste der ausländischen Betriebsstätte kämen lediglich die dem letzten Veranlagungszeitraum (hier: 2007) zuzuordnenden Verluste in Betracht, die aufgrund der Schließung der Betriebsstätte nicht in einen nachfolgenden Veranlagungszeitraum vorgetragen werden konnten. Es beruft sich dabei auf ein Urteil des EuGH vom 03.02.2015 (C-172/13, Kommission/Vereinigtes Königreich), dem zufolge es unionsrechtskonform ist, wenn über die Endgültigkeit der Verluste einer gebietsfremden Tochtergesellschaft unmittelbar nach Ende des Steuerzeitraums, in dem die Verluste entstanden sind, entschieden wird.
Fünfte Vorlagefrage
Schließlich bittet der BFH den EuGH zu prüfen, ob die Pflicht zur Berücksichtigung der grenzüberschreitenden finalen Verluste der Höhe nach begrenzt ist durch diejenigen Verlustbeträge, die die Gesellschaft in dem betreffenden Belegenheitsstaat der Betriebstätte hätte ansetzen können, wenn nicht die Verlustberücksichtigung dort ausgeschlossen wäre.
Denn im Falle einer Berücksichtigungsmöglichkeit der Verluste im Belegenheitsstaat der Betriebsstätte wäre nach Ansicht des BFH der Ansässigkeitsstaat des Stammhauses nicht aus Gründen der Gleichbehandlung verpflichtet gewesen, den Differenzbetrag zu dem sich aus den eigenen Gewinnermittlungsvorschriften ergebenden (höheren) Verlustbetrag zum Verlustabzug zuzulassen. Es könne bezweifelt werden, dass die Niederlassungsfreiheit den Ansässigkeitsstaat des Stammhauses verpflichtet, die Gesellschaft im Falle des Vorliegens finaler Verluste besser zu stellen, als sie gestanden hätte, wenn die Verluste in dem Belegenheitsstaat der Betriebsstätte hätten geltend gemacht werden können.
Art. 43 i.V.m. Art. 48 EG (jetzt Art. 49 i.V.m. Art. 54 AEUV), Art. 3 Abs. 1 S. 2 und Art. 18 Abs. 2 Buchst. a S. 1 DBA Großbritannien, § 7 S. 1 GewStG, § 9 Nr. 3 GewStG
Streitjahr 2007
Bis zur abschließenden Entscheidung des EuGH sollten Fälle von DBA-Freistellungsbetriebsstätten mit „finalen“ Verlusten in Absprache mit den Mandanten offen gehalten und entsprechende Rechtsmittel geprüft werden.
Finanzgericht Hessen, Urteil vom 04.09.2018, 4 K 385/17, EFG 2018, S. 1876
BFH, Urteil vom 22.02.2023, I R 35/22 (I R 32/18), siehe Deloitte Tax-News
EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-538/20
EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 10.03.2022, C-538/20
BFH, EuGH Vorlage vom 06.11.2019, I R 32/18, BStBl. II 2021, S.68
EuGH, Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, „Marks & Spencer“, DStR 2005, S. 2168
EuGH, Urteil vom 17.12.2015, C-388/14, „Timac/Agro“, BStBl. II 2016, S. 362
BFH, Urteil vom 22.02.2017, I R 2/15, BStBl. II 2017, S. 709, siehe Deloitte Tax-News
EuGH, Urteil vom 12.06.2018, C-650/16, „Bevola/Trock“, DStR 2018, S. 1353, siehe Deloitte Tax-News
EuGH, Urteile vom 19.06.2019, C-607/17, Memira Holding, IStR 2019, S. 597 und C-608/17, Holmen, IStR 2019, S. 603
EuGH, Urteil vom 03.02.2015, C-172/13, Kommission/Vereinigtes Königreich, IStR 2015, S. 137
BFH, Urteil vom 05.02.2014, I R 48/11, BFHE 244, S. 371, siehe Deloitte Tax-News unter Anmerkung
BFH, Urteil vom 09.06.2010, I R 107/09, BFHE 230, S. 35, siehe Deloitte Tax-News
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