Der Gesetzgeber verstößt durch ein sog. Treaty Override nicht gegen Verfassungsrecht. Das Grundgesetz beinhaltet keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen. § 50d Abs. 8 S. 1 EStG 2002 ist somit nicht verfassungswidrig.
Der Kläger erzielte im Streitjahr 2004 teils in Deutschland, teils in der Türkei Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In seiner Einkommensteuererklärung beantragte der Kläger, den auf die Türkei entfallenden Anteil des Arbeitslohns steuerfrei zu belassen (Art. 23 Abs. 1 Buchst. a S. 1 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 DBA-Türkei 1985). Da der Kläger keinen Nachweis über die Steuerfreiheit oder Steuerentrichtung für den auf die Tätigkeit in der Türkei entfallenden Arbeitslohn erbrachte, behandelte das Finanzamt den gesamten im Streitjahr erzielten Bruttoarbeitslohn unter Hinweis auf § 50d Abs. 8 S. 1 EStG 2002 als steuerpflichtig.
Einspruch und Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 2004 blieben ohne Erfolg. Der BFH hatte das Verfahren mit Beschluss vom 10.01.2012 ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 50d Abs. 8 S. 1 EStG gegen das Grundgesetz verstößt, weil er für Einkünfte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen aus nichtselbständiger Arbeit eine von den Regelungen eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung abweichende Besteuerung erlaubt.
§ 50d Abs. 8 S. 1 EStG 2002 sei mit dem Grundgesetz vereinbar.
§ 50d Abs. 8 EStG knüpft die in einem Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehene
Freistellung von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit von der deutschen Steuer an den Nachweis,
dass der Vertragsstaat, dem nach dem Abkommen das Besteuerungsrecht zusteht, auf dieses
Besteuerungsrecht verzichtet hat oder dass die von ihm festgesetzten Steuern entrichtet wurden.
In der Ordnung des Grundgesetzes hätten völkerrechtliche Verträge i.d.R. den Rang einfacher Bundesgesetze. Sie könnten daher durch spätere, ihnen widersprechende Bundesgesetze verdrängt werden. Rang und Einordung eines völkerrechtlichen Vertrags innerhalb der deutschen Rechtsordnung würden durch das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 2 GG), das das Verhältnis von internationalem und nationalem Recht an verschiedenen Stellen regelt, bestimmt. In ihrem Geltungsbereich bestimme die Verfassung insofern auch über Wirksamkeit und Anwendbarkeit von Völkerrecht, die innerhalb der deutschen Rechtsordnung von den Vorgaben des Grundgesetzes abhingen und so durch die Verfassung auch begrenzt werden könnten, sodass es zu einem Auseinanderfallen von innerstaatlich wirksamem Recht und völkerrechtlichen Verpflichtungen kommen könne.
Art. 25 S. 1 GG verschaffe den allgemeinen Regeln des Völkerrechts innerstaatliche Wirksamkeit.
Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts hätten gem. Art. 25 S. 2 GG innerhalb der nationalen Rechtsordnung einen Rang über den (einfachen) Gesetzen, aber unterhalb der Verfassung (Zwischenrang). Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen nähmen grundsätzlich nicht an dem in Art. 25 S. 2 GG vorgesehenen Vorrang teil. Das Grundgesetz sehe einen generellen Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem einfachen Gesetzesrecht nicht vor.
Nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erlangten völkerrechtliche Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, erst durch das dort vorgesehene Zustimmungsgesetz innerstaatliche Wirksamkeit. Aus Art. 59 Abs. 2 S.1 GG folge zudem, dass völkerrechtlichen Verträgen, soweit sie nicht in den Anwendungsbereich einer anderen, spezielleren Öffnungsklausel – insbesondere Art. 23 bis Art. 25 GG – fallen, innerstaatlich der Rang eines einfachen (Bundes-)Gesetzes zukomme und sie insofern keinen Übergesetzes- oder gar Verfassungsrang besitzen.
Haben völkerrechtliche Verträge den Rang (einfacher) Bundesgesetze, könnten sie entsprechend dem lex-posterior-Grundsatz durch spätere, ihnen widersprechende Bundesgesetze verdrängt werden. Auch aus der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG ergebe sich nicht, dass eine solche Verdrängung an besondere Voraussetzungen gebunden wäre.
Allgemeine Regeln des Völkerrechts zur innerstaatlichen Erfüllung von Vertragspflichten existierten nicht. Das Völkerrecht überlasse es vielmehr den Staaten, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung völkerrechtlicher Regelungen nachkommen und inwiefern sie die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer Kollision zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Gesetz nach den entsprechenden Rang- und Kollisionsregeln des nationalen Rechts regeln und dem nationalen Recht den Vorrang einräumen.
Die Verfassungswidrigkeit völkerrechtswidriger Gesetze lasse sich auch nicht unter Rückgriff auf den ungeschriebenen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes begründen. Der Grundsatz habe zwar Verfassungsrang, beinhalte jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen. Er diene vielmehr vor allem als Auslegungshilfe. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit könne insbesondere die differenzierten Regelungen des Grundgesetzes über den Rang der unterschiedlichen Quellen des Völkerrechts nicht verdrängen und ihre Systematik nicht unterlaufen.
Die einseitige Abkommensüberschreibung (Treaty Override) sei schließlich auch nicht wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip verfassungswidrig. Die Auslegung des grundgesetzlichen Rechtsstaatsgebots müsse den Anforderungen einer systematischen Interpretation des Verfassungstextes genügen. Eine (vermeintlich) rechtsstaatliche Auslegung finde jedenfalls an ausdrücklichen Vorgaben des Grundgesetzes und am Demokratieprinzip ihre Grenze. Daher könne aus dem Rechtsstaatsprinzip ein insbesondere den Art. 25 S. 2, Art. 59 Abs. 2 GG widersprechender (begrenzter) Vorrang des Völkervertragsrechts vor dem (einfachen) Gesetz oder eine Einschränkung des lex-posterior-Grundsatzes nicht abgeleitet werden.
Es könne dahinstehen, ob § 50d Abs. 8 S. 1 EStG eine Abkommensüberschreibung (Treaty Override) darstelle. Das Grundgesetz verbiete jedenfalls aus den genannten Gründen eine Überschreibung der dort genannten völkervertraglichen Vereinbarungen durch abweichende nationale Regelungen im Regelfall nicht.
Weiter sei § 50d Abs. 8 S. 1 EStG auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Der allgemeine Gleichheitssatz gebiete dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. § 50d Abs. 8 EStG enthalte eine Ungleichbehandlung. So werden Einkünfte unbeschränkt Steuerpflichtiger aus nichtselbständiger Arbeit, die nach den Regelungen eines DBA von der deutschen Steuer befreit sind, im Fall der Nichterbringung des von § 50d Abs. 8 S. 1 EStG geforderten Nachweises genauso behandelt wie Einkünfte unbeschränkt Steuerpflichtiger, die nicht aufgrund von DBA von der deutschen Steuer befreit sind, so dass die mit der Freistellung von der deutschen Steuer verbundene Begünstigung aufgehoben wird, während sie für diejenigen, die den Nachweis erbringen, bestehen bleibt. Darüber hinaus verlangt § 50d Abs. 8 S. 1 EStG nur für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als zusätzliche Voraussetzung für die in einem DBA vorgesehene Freistellung von der deutschen Steuer einen Nachweis über einen Besteuerungsverzicht des Vertragsstaates beziehungsweise über die Entrichtung der von diesem Staat festgesetzten Steuer. Die Ungleichbehandlung werde durch den Gesetzgeber dadurch gerechtfertigt, dass damit der im Vergleich zu sonstigen Einkunftsarten erhöhten Gefahr des Missbrauchs der in einem DBA vorgesehenen Freistellung von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit von der deutschen Steuer entgegengewirkt werden solle.
§ 50d Abs. 8 S. 1 EStG 2002 i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2003, Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG
Streitjahr 2004
Sondervotum der Richterin König
In einem bemerkenswerten Sondervotum hat die Richterin König mitgeteilt, dass sie die Entscheidung der Senatsmehrheit weder in der Argumentation noch im Ergebnis mittragen könne. In einer globalisierten Welt, in der die Staaten durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge in einem weiten Spektrum von Regelungsbereichen miteinander verflochten seien, halte sie die Entscheidung für nicht (mehr) überzeugend.
Tragweite der Entscheidung des BVerfG vom 15.12.2015
Das Normenkontrollersuchen, über das das BVerfG hier entschieden hat, betrifft unmittelbar nur die Vorschrift des § 50d Abs. 8 EStG. Es stehen jedoch – und darin liegt letztlich die Brisanz der Entscheidung – eine Vielzahl weiterer einschlägiger Regelungen auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts. Der deutsche Gesetzgeber hat vor allem in der jüngeren Vergangenheit in erheblichem Maße von dem seit langem umstrittenen Mittel des Treaty Overriding Gebrauch gemacht. Weitere anhängige BVerfG-Vorlagen: BFH-Beschluss vom 20.08.2014 zu § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 2 S. 1 EStG 2002/2007/2009 und BFH-Beschluss vom 11.12.2013 zu § 50d Abs. 10 S. 1 EStG 2002 n.F./2009 a.F. (i.d.F. JStG 2009). Hierzu wird das BVerfG vermutlich entsprechend entscheiden.
Vorinstanz
Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30.06.2009, 6 K 1415/09, EFG 2009, S. 1649
BFH, Beschluss vom 10.01.2012,BFHE 236 S. 304, siehe Deloitte Tax-News
Fundstellen
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 1/12 Pressemitteilung Nr. 9/2016 vom 12.02.2016
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