Aktuell:
EuGH, Schlussanträge vom 20.01.2022, Rechtssache C-572/20
Der Generalanwalt beim EuGH hält erforderliche Nachweispflichten zur Erstattung von Kapitalertragsteuer bei Streubesitzdividenden (§ 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 i.V.m. § 32 Abs. 5 S. 5 KStG) für europarechtswidrig.
Die Klägerin ist eine in Großbritannien ansässige Kapitalgesellschaft, die zu weniger als 6% an einer deutschen Tochtergesellschaft beteiligt war. 100%iger Anteilseigner der Klägerin war eine in Großbritannien ansässige, börsennotierte Kapitalgesellschaft. Die Klägerin hatte von ihrer deutschen Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen erhalten, für die Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag einbehalten und abgeführt wurden.
Das Bundeszentralamt für Steuern gewährte der Klägerin nur eine anteilige Erstattung der Kapitalertragsteuer unter Berücksichtigung des einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens, nicht aber die unter Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit begehrte vollständige Erstattung der Kapitalertragsteuer. Das Bundeszentralamt für Steuern verwies im Laufe des Verfahrens darauf, dass die in (dem später eingeführten) § 32 Abs. 5 KStG vorgesehenen Voraussetzungen für die Erstattung der Kapitalertragsteuer nicht erfüllt sind. Tatsächlich war für jeden Aktionär der börsennotierten Muttergesellschaft der Klägerin eine durch die jeweilige Steuerverwaltung ausgestellte Bescheinigung der Nichtanrechenbarkeit der Kapitalertragsteuer (vgl. § 32 Abs. 5 S. 5 KStG, siehe auch unter „Gesetzliche Grundlagen“) verlangt worden.
Gesetzliche Grundlagen
§ 32 Abs. 5 KStG regelt die Erstattung von Kapitalertragsteuer für EU/EWR-Gesellschaften für Dividenden, die vor Einführung der Steuerpflicht von Streubesitzdividenden (§ 8b Abs. 4 KStG) ausgeschüttet wurden (dazu siehe am Ende des Beitrags („Hintergrund“)):
Auch das FG kam zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Kapitalertragsteuererstattung nach § 32 Abs. 5 KStG nicht erfüllt sind. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die Kapitalertragsteuer bei der Muttergesellschaft der Klägerin oder ihren zahlreichen Anteilseignern behandelt wird. Allerdings hat das FG Zweifel an der Vereinbarkeit der in § 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 i.V.m. § 32 Abs. 5 S. 5 KStG vorgesehenen Voraussetzungen mit der Kapitalverkehrsfreiheit sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität. Folglich hat das FG dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Zur ersten Frage:
Auch der Generalanwalt beim EuGH ist der Auffassung, dass die nationale Steuervorschrift (§ 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 i.V.m. § 32 Abs. 5 S. 5 KStG) nicht mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar ist. Um mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar zu sein, muss eine solche nationale Vorschrift der empfangenden gebietsfremden Gesellschaft die Kapitalertragsteuer in dem Umfang erstatten, in dem sie im Ansässigkeitsstaat nach einem anwendbaren Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht angerechnet werden kann. Ist im Wohnsitzstaat nur eine teilweise Anrechnung möglich, muss der Quellenstaat die Differenz erstatten.
Ungleichbehandlung von gebietsfremden und gebietsansässigen Gesellschaften
Nach dem Generalanwalt liegt eine Ungleichbehandlung von gebietsfremden und gebietsansässigen Gesellschaften vor. Im Falle einer gebietsfremden Gesellschaft ist die Erstattung der Quellensteuer an die Bedingung geknüpft, dass weder die gebietsfremde Gesellschaft noch ein an ihr unmittelbar oder mittelbar beteiligter Anteilseigner die Kapitalertragsteuer anrechnen, als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abziehen oder am Ort ihrer steuerlichen Ansässigkeit vortragen konnte. Bei einer gebietsansässigen Gesellschaft wird die Quellensteuer in vollem Umfang auf die von ihr zu zahlende Körperschaftsteuer angerechnet und ihr gegebenenfalls erstattet. Die Anrechnung und (eventuelle) Erstattung der Steuer setzt nur voraus, dass die Steuer einbehalten und abgeführt wurde. Obwohl gebietsansässige Gesellschaften direkte oder indirekte gebietsfremde Anteilseigner haben können, sehen die deutschen Rechtsvorschriften für sie nicht dieselben Anforderungen vor wie die in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG.
Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass eine solche Ungleichbehandlung gebietsfremde Gesellschaften davon abhalten kann, in Gesellschaften zu investieren, die in Deutschland ansässig sind, und dass sie auch ein Hindernis für die Kapitalbeschaffung gebietsansässiger Gesellschaften bei in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften darstellen kann.
Ungleichbehandlung ist auch nicht gerechtfertigt
Die deutsche Regelung (§ 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 KStG) könnte mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar angesehen werden, wenn die sich aus ihr ergebende Ungleichbehandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
Nach dem Generalanwalt befinden sich gebietsfremde Gesellschaften, was die Gefahr einer mehrfachen Besteuerung der von gebietsansässigen Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden angeht, in einer Situation, die der gebietsansässiger Gesellschaften vergleichbar ist, so dass gebietsansässige Empfängergesellschaften nicht anders behandelt werden dürfen als gebietsansässige (vgl. Urteil vom 20.10.2011, C-284/09). Die unterschiedliche Behandlung von Dividenden an gebietsfremde bzw. gebietsansässige Gesellschafter werde nur dann beseitigt, wenn die erhobene Quellensteuer auf die im anderen Mitgliedstaat geschuldete Steuer in dem Umfang angerechnet werden kann, in dem aufgrund des nationalen Rechts eine unterschiedliche Behandlung besteht (vgl. Urteil vom 17.09.2015, C-10/14, C-14/14 und C-17/14).
Darüber hinaus vertritt der Generalanwalt auch die Auffassung, dass die Ungleichbehandlung auch nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses (hier: Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten) gerechtfertigt ist, da die Streubesitzdividenden an gebietsansässige Gesellschaften in den Genuss einer vollständigen Neutralisierung der Auswirkungen des Abzugs an der Quelle kommen.
Zur zweiten Frage:
Angesichts der oben dargestellten Antwort auf die erste Frage erübrigt sich grundsätzlich eine Beantwortung der zweiten Frage. In Anbetracht der Möglichkeit, dass der EuGH in Bezug auf die erste Frage eine andere Auffassung vertritt, hat der Generalanwalt allerdings auch die zweite Frage, wie folgt, beantwortet. Für den Generalanwalt steht fest, dass die in § 32 Abs. 5 S. 5 KStG vorgesehene Beweispflicht, soweit sie die unmittelbaren und mittelbaren Anteilseigner der gebietsfremden Gesellschaft betrifft und die Möglichkeit ausschließt, die geltend gemachten Tatsachen auf andere Weise nachzuweisen, im Hinblick auf die von der deutschen Regierung verfolgten Ziele unverhältnismäßig ist.
§ 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 i.V.m. § 32 Abs. 5 S. 5 KStG
Streitjahre 2006, 2007, 2008
Hintergrund zu § 32 Abs. 5 KStG
Der in § 32 Abs. 5 KStG geregelte Erstattungsanspruch wurde durch das Gesetz zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20.10.2011 in der Rechtssache C-284/09 (siehe Deloitte Tax News) vom 21.03.2013 (BGBl. 2013, S. 561) eingeführt. Mit diesem Gesetz vom 21.03.2013 sollte der vom EuGH festgestellten Europarechtswidrigkeit der bis dahin geltenden Regelung zur Besteuerung von Streubesitzdividenden begegnet werden. Der Gesetzgeber konnte der festgestellten Europarechtswidrigkeit auf zwei Wegen begegnen: entweder die einbehaltene Kapitalertragsteuer sowohl bei inländischen als auch bei ausländischen Anteilseignern zu erstatten oder „zu Lasten aller“ Streubesitzdividenden zu besteuern. Mit der Einführung des § 8b Abs. 4 KStG entschied sich der Gesetzgeber für Letzteres. § 8b Abs. 4 KStG wurde für nach dem 28.02.2013 zufließende Dividendeneinnahmen eingeführt (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung, siehe auch BFH-Urteil vom 18.12.2019, I R 29/17, siehe Deloitte Tax News).
Die Regelung des § 32 Abs.5 KStG ist zwar gemäß § 34 Abs.13b S. 3 KStG a. F. erstmals für im Kalenderjahr 2013 zugeflossene Kapitalerträge anzuwenden. Für davor zugeflossene Kapitalerträge gilt § 32 Abs. 5 KStG gemäß § 34 Abs. 13 b S. 4 KStG a.F. zudem ebenso, soweit Dividenden bereits unter dem Halbeinkünfteverfahren bezogen wurden. Da gemäß § 32 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 KStG die Kapitalertragsteuererstattung nur bei Kapitalerträgen in Betracht kommt, die gemäß § 8b Abs. 1 KStG bei der Einkommensermittlung außer Ansatz bleiben würden, kommt der Erstattungsanspruch nach § 32 Abs. 5 KStG tatsächlich hauptsächlich für Altfälle (also für bis zum 28.02.2013 zugeflossene Bezüge) zur Anwendung. Allerdings wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass § 32 Abs. 5 KStG punktuell auch auf Neufälle (also nach dem 28.02.2013 zufließende Dividenden) anwendbar ist (z.B., wenn die ausländische Gesellschaft zu mehr als 10% an einer inländischen Gesellschaft beteiligt ist, aber die in § 43b Abs. 2 S. 4 EStG festgelegte Mindesthaltefrist von 12 Monaten nicht erreicht ist).
Praxishinweis
Fälle, in denen der Anspruch des Steuerpflichtigen von § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 und S. 5 KStG abhängt, sollten offengehalten werden. Darüber hinaus kann die Entscheidung Bedeutung haben für andere Sachverhalte, in denen die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Grundfreiheiten durch verfahrensrechtliche Hürden übermäßig erschwert wird.
FG Köln, Beschluss vom 20.05.2020, 2 K 283/16 Finanzgericht Köln, 2 K 283/16
EuGH, Urteil vom 16.06.2022, C-572/20
EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 20.01.2022, Rechtssache C-572/20
EuGH, Urteil vom 17.09.2015, C-10/14, C-14/14 und C-17/14
EuGH, Urteil vom 20.10.2011, C-284/09, DStR 2011, S. 2038, siehe Deloitte Tax News
BFH, Urteil vom 18.12.2019, I R 29/17, BVerfG-anhängig: 2 BvR 1832/20, siehe Deloitte Tax News
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