Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hatte am 13. Juli 2006 ein umfangreiches Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen veröffentlicht. Mit dem am 5. April 2017 herausgegebenen Schreiben hat es nun die Textziffer 5 des bisherigen Merkblatts neu gefasst.
Das Merkblatt vom 13.06.2006 regelt die Details der Durchführung internationaler Verständigungsverfahren nach DBA sowie Verständigungs- und Schiedsverfahren nach der EU-Schiedskonvention zur Beseitigung von Doppelbesteuerungen basierend auf Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen. Nach der Darstellung der allgemeinen Regeln geht das Merkblatt getrennt auf beide Verfahren ein und beschreibt deren Einleitung, Durchführung und Umsetzung.
Gegenüber der bisherigen Tz. 5 des Merkblattes, welche den Verzicht auf ein Verständigungsverfahren nach DBA regelte, widmet sich die neugefasste Tz. 5 mit tatsächlichen Verständigungen im Vorfeld eines Verständigungs- und Schiedsverfahrens.
Zunächst stellt das BMF klar, dass dem Steuerpflichtigen der Zugang zu einem Verständigungs- oder Schiedsverfahren von der Finanzverwaltung nicht verwehrt werden kann. Allerdings ist es in Fällen, in denen trotz schwierig zu ermittelnder tatsächlicher Umstände eine tatsächliche Verständigung zustande kommt, in einem späteren Verständigungs- oder Schiedsverfahren nicht mehr möglich, den Sachverhalt nachträglich beweissicher festzustellen. In diesem Zusammenhang sieht es die deutsche Finanzverwaltung als sachgerecht an, den Abschluss einer vom Steuerpflichtigen beantragten tatsächlichen Verständigung unter den Vorbehalt zu stellen, dass der Steuerpflichtige schriftlich darauf zu verzichten, den Inhalt der tatsächlichen Verständigung zum Gegenstand eines Schiedsverfahrens zu machen. Zur Vermeidung widersprechender Sachverhaltsfestlegungen sollte auch das verbundene ausländische Unternehmen den Verzicht erklären.
Liegen der deutschen Finanzverwaltung beide Verzichtserklärungen vor, wird sie zwar der Eröffnung eines Verständigungsverfahrens zustimmen, jedoch nach der auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhende Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung keine Abweichung von den darin geregelten Sachverhaltsfestlegung akzeptieren. Bei einer ausbleibenden Einigung im Verständigungsverfahren wird die deutsche Finanzverwaltung auch insoweit kein Schiedsverfahren führen.
Zunächst ist die Klarstellung zu begrüßen, dass im Rahmen einer Betriebsprüfung der Zugang zu Verständigungs- und Schiedsverfahren nicht (faktisch) verwehrt werden soll. In der Prüfungspraxis ist nämlich oft zu beobachten, dass ohne einen solchen Verzicht erheblich höhere Einkommensanpassungen in Aussicht gestellt werden, auch wenn diese Vorgehensweise explizit in Widerspruch zu den „minimum standards“ für Verständigungsverfahren gemäß Tz. 2.6 der BEPS-Maßnahme 14 steht.
In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung können unter bestimmten Voraussetzungen der Steuerpflichtige und die deutsche Finanzverwaltung eine tatsächliche Verständigung erzielen. Die deutsche Finanzverwaltung ist dann weiterhin bereit, Verständigungsverfahren zu betreiben, um eine Gegenanpassung im Ausland zu erreichen und somit eine abkommenswidrige Doppelbesteuerung zu beseitigen, die aus der im Rahmen der Betriebsprüfung vorgenommenen Anpassung resultiert. Allerdings soll ein Schiedsverfahren, das bei Scheitern einer Verständigung als nächster Schritt in einer zunehmenden Zahl deutscher DBA und in der EU-Schiedskonvention vorgesehen ist, nicht mehr durchgeführt werden. Die Finanzverwaltung beruft sich hierbei im geänderten Wortlaut der Tz. 5 auf den Grundsatz von Treu und Glauben. Diese Begründung scheint wenig überzeugend, da nur der Steuerpflichtige und die deutsche Finanzverwaltung die tatsächliche Verständigung erzielen, nicht aber der ausländische Staat. Eine solche Verständigung kann keine Wirkung zulasten Dritter entwickeln. Es besteht also gerade kein Schutz der deutschen Finanzverwaltung nach Treu und Glauben, dass der ausländische Staat im Verständigungsverfahren eine Gegenanpassung akzeptieren wird.
Bereits nach deutschem Recht verzichtet der Steuerpflichtige mit Abschluss einer Tatsächlichen Verständigung grundsätzlich nicht zugleich auf deutschen Rechtsschutz, d.h. auf Einspruch (§ 354 AO) oder Klage (§ 50 FGO). Ein solcher Verzicht ist eine formelle Prozesshandlung. Der Steuerpflichtige „präjudiziert“ sich mittels Tatsächlicher Verständigung allenfalls materiell, soweit er an die Tatsächliche Verständigung gebunden ist, indem er einen Sachverhalt „anerkennt“. Dieser Sachverhalt wird sich materiell regelmäßig auf Besteuerungsgrundlagen und damit auf die Steuerfestsetzung auswirken, die er insoweit im Einspruchs- und Klageverfahren regelmäßig nicht mehr erfolgreich bekämpfen dürfen wird.
Mit anderen Worten: Die Frage des Rechtsschutzes nach Tatsächlicher Verständigung hängt an ihrer Bindungswirkung. Bereits nach deutschem Recht kann eine Tatsächliche Verständigung nur die Beteiligten binden, zwischen denen sie zustande kommt: den Steuerpflichtigen und „sein“ Festsetzungsfinanzamt. Dritte, z.B. ein nicht beteiligtes deutsches Finanzamt, sind nicht gebunden, selbst wenn die Tatsächliche Verständigung sich auf sie auswirkt.
Erst recht nicht bindet eine deutsche Tatsächliche Verständigung, die eine in der deutschen Rechtsordnung entwickelte und nicht gesetzlich geregelte Rechtsfigur ist, ausländische Staaten bzw. deren Finanzbehörden, die Parteien von Schiedsverfahren sind.
Nach alledem führt der Grundsatz von Treu und Glauben im Kontext Tatsächlicher Verständigungen unseres Erachtens nicht dazu, dass dem Steuerpflichtigen internationaler Rechtsschutz auch durch Schiedsverfahren abgeschnitten werden darf.
Unabhängig von dieser Frage sollte der Steuerpflichtige jedoch vor dem Eingehen einer tatsächlichen Verständigung eruieren, ob und in welchem Umfang die angestrebte Einigung zu einer Doppelbesteuerung führen wird und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der ausländische Staat im Verständigungsverfahren eine Gegenberichtigung akzeptieren wird. Sollte sich dabei herausstellen, dass die mit der deutschen Finanzverwaltung zu erzielende Einigung vom anderen Staat wahrscheinlich nicht akzeptiert werden dürfte, wäre abzuwägen, ob ein aus Konzernsicht günstigeres Ergebnis im Wege eines Verständigungs- und Schiedsverfahrens ohne eine vorherige tatsächliche Verständigung erzielt werden könnte. Dabei schlägt natürlich die Unsicherheit in Hinblick auf den unklaren Sachverhalt zu Buche. Einerseits sind die ausländische Finanzverwaltung im Rahmen des Verständigungsverfahrens und die Schiedskommission im Rahmen des ggf. anschließenden Schiedsverfahrens nicht an die Sachverhaltsermittlung und -interpretation der deutschen Finanzverwaltung gebunden. Andererseits sind Verständigungs- und Schiedsverfahren mit unklarem Sachverhalt häufig besonders langwierig und problematisch.
Angesichts der Auffassung der Finanzverwaltung kann sich eine tatsächliche Verständigung also als zweischneidiges Schwert erweisen, wenn ein Verständigungsverfahren angestrebt wird und es dann zu keiner Verständigung zwischen den Staaten kommt.
Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern und vom Vermögen; Überarbeitung der Tz. 5 des BMF-Schreibens vom 13.06.2006, BMF-Schreiben vom 05.04.2017, IV B 5 - S 1304/0-04
Tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt, BMF-Schreiben vom 30.07.2008 (BStBl I S. 831)
Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, BMF-Schreibens vom 13.07.2006, IV B 6 - S 1300 - 340/06 (BStBl 2006 I S. 461)
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