Das Mindestlohngesetz ist nun seit über einem Jahr in Kraft. Leider gibt es mangels BAG-Rechtsprechung nach wie vor Unklarheiten zur konkreten Berechnung des Mindestlohns. Welche Vergütungskomponenten dürfen Arbeitgeber zulässigerweise auf den Mindestlohn anrechnen? Die jüngste Rechtsprechung des LAG Berlin-Brandenburg bestätigt bisherige Tendenzen hierzu.
Obwohl das Mindestlohngesetz nun seit über einem Jahr in Kraft ist, bestehen nach wie vor Unklarheiten hinsichtlich Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelungen. Aus der Arbeitgeberpraxis betrifft dies vorwiegend die Frage, welche Leistungen zulässigerweise auf den Mindestlohn angerechnet werden dürfen.
Hierzu gibt es noch keine klärende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Eine Tendenz lässt sich aber der jüngsten obergerichtlichen Rechtsprechung entnehmen. Vorreiter ist das LAG Berlin-Brandenburg, bei dem sich mehrere Kammern zu Anrechnungsfragen geäußert haben – zuletzt durch Entscheidung vom 12.01.2016 (Az. 19 Sa 1851/15, Pressemitteilung vom 27.01.2016).
Insgesamt geht das LAG Berlin-Brandenburg, wie die erstinstanzliche Rechtsprechung, aber auch Gesetzesbegründung, Bundesarbeitsministerium und Zoll von demselben Lösungskonzept zur Frage der Anrechenbarkeit von Vergütungskomponenten aus.
Maßgeblich sei die Rechtsprechung von Europäischem Gerichtshof und Bundesarbeitsgerichts zu vergleichbaren Mindestlohnbegriffen, z.B. im Zusammenhang mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z.B. Urteil vom 07.11.2013, Az. C-522/12) können nur Vergütungsbestandteile berücksichtigt werden, die das Verhältnis zwischen Leistung des Arbeitnehmers und Gegenleistung des Arbeitgebers nicht verändern. Laut Bundesarbeitsgericht (z.B. Urteil vom 18.04.2012, Az. 4 AZR 139/10) ist eine Anrechnung denkbar, sofern zwischen Vergütungskomponente und Arbeitsleistung „funktionale Gleichwertigkeit“ besteht.
Diese Umschreibungen lassen sich für die Praxis am besten wie folgt zusammenfassen: Soll die Vergütungskomponente im Einzelfall die Normalleistung des Arbeitnehmers vergüten, die mit dem Mindestlohn kompensiert werden soll? Wenn der Arbeitgeber diese Frage positiv beantworten kann, kommt eine Anrechnung auf den Mindestlohn grundsätzlich in Frage. Mithilfe dieser Grundregel hat das LAG Berlin-Brandenburg insbesondere die Frage nach der Anrechenbarkeit folgender Leistungen gelöst:
Im Zentrum des Arbeitgeberinteresses steht regelmäßig die Frage nach der Anrechenbarkeit von Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld oder Gratifikationen. Auch hier ist zuerst zu klären, ob diese die Normalleistung des Arbeitnehmers entlohnen sollen. Da diese Leistungen meist nur jährlich ausgezahlt werden, ist auf einer zweiten Stufe die Regelung des § 2 Mindestlohngesetz zu berücksichtigen, die eine Anrechnung zusätzlich durch die gesetzliche Fälligkeitsregelung begrenzt. Da der Mindestlohn „spätestens am letzten Bankarbeitstag des Monats fällig wird, der auf den Monat folgt, in dem die Arbeitsleistung erbracht wurde“, kommt eine Anrechnung jährlicher Sonderzahlungen in der Regel nur im Auszahlungsmonat und damit nur zu einem geringen Anteil in Frage. Vollumfänglich könnte sie anrechenbar sein, soweit sie Monat für Monat anteilig verdient wird, wie das LAG Berlin-Brandenburg bestätigt hat:
Per Urteil vom 12.01.2016 hat das LAG entschieden, dass eine früher zweimal jährlich und nun monatlich anteilig ausgezahlte Sonderzahlung auf den Mindestlohn anrechenbar sei, da es sich im Einzelfall gerade um Arbeitsentgelt für die normale Arbeitsleistung handle. Die Sonderzahlung war lediglich abhängig von der Beschäftigung der Klägerin im jeweiligen Jahr; eine Abhängigkeit insbesondere von weiterer Betriebstreue war nicht statuiert. Auch wenn das LAG hier die Möglichkeit einer Anrechnung ratierlich ausgezahlter Sonderzahlungen im Einzelfall bestätigt, darf dies nicht so verstanden werden, dass jede monatlich ausgezahlte Sonderleistung auf den Mindestlohn anrechenbar ist. Das LAG stellt aber klar, dass dies in Anbetracht der Fälligkeitsregeln möglich ist.
Mit Urteil vom 02.10.2015 (Az. 9 Sa 570/15) urteilte das Gericht dagegen über eine jährlich ausgezahlte Sonderzahlung und verneinte im Einzelfall eine Anrechenbarkeit auf den Mindestlohn mangels „funktionaler Gleichwertigkeit“. Im vorgelegten Fall wurde keine Normalleistung vergütet. Vielmehr indizierte die prozentual mit der Betriebszugehörigkeit steigende Sonderzahlung – inkl. Kürzungsmöglichkeiten für Fehlzeiten –, dass die Sonderleistung vielmehr langjährige Betriebstreue bzw. Verfügbarkeit ohne krankheitsbedingte Ausfallzeiten entlohnen sollte.
Mit seiner Entscheidung vom 02.10.2015 hat sich das LAG Berlin-Brandenburg auch zur Anrechnung von zusätzlichem Urlaubsgeld geäußert. Es urteilte, dass das streitgegenständliche zusätzliche Urlaubsgeld gerade keine Gegenleistung für die erbrachte Arbeit des Arbeitnehmers darstelle. Voraussetzung für den Anspruch war lediglich das Bestehen gewährten Erholungsurlaubs, nicht aber eine bestimmte erbrachte Leistung. Aus der Anknüpfung des Anspruchs an den Urlaub folge, dass das Urlaubsgeld Erholungszwecken diene und nicht der Vergütung von Arbeitsleistung.
So beurteile das LAG Berlin-Brandenburg auch schon einen vergleichbaren Fall mit Urteil vom 11.08.2015 (Az. 19 Sa 819/15) und hob hervor, dass zusätzlich gewährtes Urlaubsgeld vielmehr den Zweck habe, zusätzliche Kosten zu kompensieren, die dem Arbeitnehmer während der Erholung entstehen.
Wie diese Fallbeispiele belegen, manifestieren sich die bisherigen Tendenzen zur Klärung der Frage nach der Anrechnung von Vergütungsbestandteilen. Es bleibt aber abzuwarten, wie sich das Bundesarbeitsgericht hierzu positioniert. Eine baldige Stellungnahme aus Erfurt wäre wünschenswert.
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