BFH: Nachweis eines unter dem festgestellten Grundsteuerwert liegenden Werts
Der BFH hat erstmalig in zwei AdV-Verfahren zu den Bewertungsregelungen des neuen Grundsteuer- und Bewertungsrechts entschieden, dass Steuerpflichtige im Einzelfall unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit haben müssen, einen unter dem festgestellten Grundsteuerwert liegenden Wert ihres Grundstücks nachzuweisen. Hierfür ist regelmäßig der Nachweis erforderlich, dass der Wert der wirtschaftlichen Einheit den festgestellten Grundsteuerwert derart unterschreitet, dass sich der vom Finanzamt festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist. Nach bisheriger Rechtsprechung setzt dies regelmäßig voraus, dass der vom Finanzamt festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt.
Nicht zu prüfen war vom BFH, ob die neue Grundsteuer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln bezüglich der zugrundeliegenden Bewertungsregeln unterliegt.
Sachverhalt
Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus (vor 1949 bezugsfertig) bebauten Grundstücks. Mit Bescheid vom 28.12.2022 stellte das Finanzamt den Grundsteuerwert der wirtschaftlichen Einheit zum 01.01.2022 auf 91.600 Euro fest.
Die Antragstellerin beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV), da seit dem Baujahr des Einfamilienhauses im Jahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden seien und der festgestellte Grundsteuerwert daher gemessen am Wert des Hauses zu hoch sei. Den Antrag auf AdV lehnte das Finanzamt ab, da es sich bei der Bewertung für Grundsteuerzwecke um eine typisierte Bewertung handele, die keine individuelle Verkehrswertermittlung in Bezug auf das Objekt zulasse. Dagegen hat das FG die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt.
Entscheidung
Der BFH teilt die Auffassung des FG, dass nach summarischer Prüfung des Sachverhalts ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Grundsteuerwertbescheids vom 28.12.2022 in Bezug auf die Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts bestehen und die Vollziehung des Bescheides daher auszusetzen sei. Die Zweifel ergeben sich daraus, dass dem Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.
Neuregelung der Grundsteuer durch Grundsteuer-Reformgesetz vom 26.11.2019
Der angefochtene Grundsteuerwertbescheid beruht auf den mit dem Grundsteuer-Reformgesetz vom 26.11.2019 (siehe Deloitte Tax-News) neu eingefügten §§ 218 ff. BewG. Die Neuregelung der Bewertung für Zwecke der Grundsteuer war erforderlich, nachdem das BVerfG mit seinem Urteil vom 10.04.2018 (1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, siehe Deloitte Tax-News) die Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer für verfassungswidrig erklärt hatte.
Gemeiner Wert als Bewertungsziel
Die Neuregelungen enthalten eine Vielzahl von Typisierungen und Pauschalierungen, gerade in Massenverfahren der vorliegenden Art verfügt der Gesetzgeber über einen großen Typisierungs- und Pauschalierungsspielraum.
Eine das Übermaßverbot beachtende Besteuerung ist nach Auffassung des BFH grundsätzlich nur dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert. Soweit sich im Einzelfall ein Unterschied zwischen dem gemäß §§ 218 ff. BewG ermittelten Wert und dem gemeinen Wert ergibt, ist dies aufgrund der typisierenden und pauschalierenden Wertermittlung des Bewertungsgesetzes, die notwendigerweise mit Ungenauigkeiten verbunden ist, grundsätzlich hinzunehmen.
Verstoß gegen das Übermaßverbot
Verfassungsgemäß sei solch eine typisierende Regelung aber nur solange, wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot im Einzelfall entweder durch verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder durch eine Billigkeitsmaßnahme abgewendet werden kann (BFH-Urteil vom 02.07.2004, II R 22/02). Das Übermaßverbot könne insbesondere dann verletzt sein, wenn sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist. Nach bisheriger Rechtsprechung setze dies regelmäßig voraus, dass der vom Finanzamt festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt (BFH-Urteil vom 16.11.2022, II R 39/20).
Im Streitfall: Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids
Im Streitfall kommt der BFH zu dem Ergebnis, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Denn es sei nicht ausgeschlossen, dass zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung im konkreten Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts (bspw. durch ein Sachverständigengutachten) in verfassungskonformer Auslegung der §§ 218 ff. BewG im Hauptsacheverfahren gelingt.
Die Antragstellerin habe konkrete Umstände des Einzelfalls vorgetragen, die den erfolgreichen Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts für die gesamte wirtschaftliche Einheit mit der erforderlichen Abweichung zu dem im typisierten Verfahren festgestellten Grundsteuerwert im Hauptsacheverfahren möglich erscheinen lassen (BFH-Beschluss vom 23.10.2002, II B 153/01). So könnte aufgrund des durch das Baujahr 1880 bedingten erheblichen Alters des Gebäudes und dessen schlechten Instandhaltungszustands infolge der seit der Erbauung unterbliebenen Renovierungen im Rahmen der Ermittlung des Verkehrswerts der gesamten wirtschaftlichen Einheit dem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beizumessen und die wirtschaftliche Einheit lediglich mit dem Bodenwert ggfs. abzüglich etwaiger Freilegungskosten zu bewerten sein (sog. Liquidationsobjekt). Die Ausführungen begründeten auch Zweifel daran, dass sich mit einem Gebäude, das sich in einem solchen Zustand befindet, die gesetzlich typisierten Mieterträge erzielen lassen.
Betroffene Normen
§§ 218 ff. BewG, § 69 Abs. 2 und 3 FGO
Streitjahr 2022
Anmerkung
Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Bedenken
Gegen die neuen Bewertungsregelungen für die Grundsteuer werden sowohl in der Praxis als auch in der Literatur – insbesondere im Hinblick auf die teils erheblichen Belastungsunterschiede in den einzelnen Bundesländern aufgrund eigener Modelle – verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. Der BFH konnte die Frage, ob die neue Grundsteuer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln bezüglich der zugrundeliegenden Bewertungsregeln unterliegt, in dem hier besprochenen AdV-Beschluss offen lassen. Anders war es in den Beschlüssen des FG Rheinland-Pfalz vom 23.11.2023 (4 V 1295/23 und 4 V 1429/23), in denen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Grundsteuerwertfeststellung im sog. Bundesmodell geäußert wurden und eine Aussetzung der Vollziehung gewährte wurde. Andere Finanzgerichte (u.a. FG Nürnberg, Beschluss vom 08.08.2023, 8 V 300/23, Flächenmodell) verneinen verfassungsrechtliche Zweifel. Es bleibt daher mit Spannung abzuwarten, wann der BFH Gelegenheit erhält, sich diesbezüglich zu positionieren.
Vorinstanz
Finanzgericht Rheinland-Pfalz , Urteil vom 23.11.2023, 4 V 1295/23
Fundstellen
BFH, Beschluss vom 27.05.2024, II B 78/23 (AdV), lt. BMF zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen
Parallelentscheidung:
BFH, Beschluss vom 27.05.2024, II B 79/23 (AdV), lt. BMF zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen
Pressemitteilung Nr. 26/24 vom 13.06.2024
Weitere Fundstellen
BVerfG, Urteil vom 10.04.2018, 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 16.11.2022, II R 39/20, BStBl. II 2024, S. 246
BFH, Urteil vom 02.07.2004, II R 22/02
BFH, Beschluss vom 23.10.2002, II B 153/01, BStBl. II 2003, S. 118