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22.02.2022
Indirekte Steuern/Zoll

EuGH: Äquivalenzgrundsatz konkretisiert

​Welche Grenzen setzen die unionsrechtlichen Strukturprinzipien der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie? Die mitgliedstaatlichen Verfahrensmodalitäten zur Durchsetzung des MwSt-Erstattungsanspruchs dürfen jedenfalls nicht ungünstiger sein als das innerstaatliche Verfahrensrecht, das für andere Steuerarten gilt.

Hintergrund

Der Anspruch auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses ergibt sich, wenn der Betrag der Vorsteuer den Betrag der für einen Zeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer übersteigt. Die Mitgliedstaaten können den Überschuss auf den folgenden Zeitraum vortragen oder nach den von ihnen festgelegten Bedingungen erstatten. Die Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses fällt in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Ihre Grenze findet die Verfahrensautonomie nach ständiger EuGH-Rechtsprechung in den unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz, Effektivität und des Vertrauensschutzes (EuGH, Urt. v. 12.05.2011, C-107/10, Enel Maritsa Iztok 3, Rn. 29; Urt. v. 21.01.2010, C-472/08, Alstom Power Hydro, Rn. 17; Urt. v. 11.07.2002, C-62/00, Marks & Spencer, Rn. 44). Ob diese Grundsätze noch gewahrt sind, wenn dem Steuerpflichtigen aufgrund eines Vorsteuerüberhangs zustehende Vergütungsanspruch im Hinblick auf „zusätzliche Zahlungsverbindlichkeiten“ gekürzt wird, bezweifelte das vorlegende rumänische Gericht im Vorabentscheidungsverfahren Philips Orastie.

Sachverhalt

Gegen die Klägerin mit Sitz in Rumänien, SC Philips Orastie SRL, erging ein Umsatzsteuerbescheid. Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein. Die unerfüllte Steuerverbindlichkeit sicherte sie mit einer Bankbürgschaft. Gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung reichte sie Klage ein. Das rumänische Berufungsgericht gab der Klage statt und hob die Festsetzung der zusätzlichen Umsatzsteuer auf. Das Urteil war nicht rechtskräftig.

Daraufhin erließ die rumänische Finanzverwaltung Berichtigungsbescheide. Der Einspruch der Klägerin wurde abgelehnt. Philips Orastie klagte. Sie machte geltend, dass nach dem rumänischen Verfahrensrecht die aufschiebende Wirkung auch geltend müsse, wenn die Verbindlichkeiten zusätzliche MwSt-Beträge beträfen, die mit den angefochtenen Steuerbescheiden festgesetzt wurden. Die Finanzverwaltung meinte, die Bankbürgschaft sei nicht ausreichend, um die festgesetzten Steuerverbindlichkeiten von der Berechnung der zu zahlenden MwSt auszuschließen. Das vorlegende Gericht zweifelte an der Unionsrechtsmäßigkeit dieser Verwaltungspraxis und legte dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Kann das Unionsrecht dahin ausgelegt werden, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Kürzung der zu erstattenden MwSt vorschreibt, indem in die Berechnung der MwSt zusätzliche bürgschaftlich gesicherte Verbindlichkeiten einbezogen werden, die durch einen aufgehobenen Steuerbescheid festgesetzt worden sind, das Urteil jedoch nicht rechtskräftig ist?

Entscheidung

Eine nationale Regelung ist unionsrechtswidrig, wenn sie für Rechtsbehelfe im Hinblick auf die Erstattung der MwSt, die auf einen Verstoß gegen das gemeinsame MwSt-System gestützt sind, ungünstigere Verfahrensmodalitäten vorsieht als für Rechtsbehelfe, die mit einem Verstoß gegen das innerstaatliche Recht begründet werden.

Anmerkung

Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten endet dort, wo die Äquivalenz verletzt ist. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung muss das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht es dem Steuerpflichtigen erlauben, den ihm infolge des Mehrwertsteuerüberschusses zustehenden Betrag unter angemessenen Bedingungen zu erlangen (EuGH, Urt. v. 12.05.2011, Enel Maritsa Iztok 3, C-107/10, Rn. 33; Urt. v. 25.10.2001, Kommission/Italien, C-78/00; Rn. 32 ff.). Nach dem Grundsatz der Äquivalenz muss eine nationale Regelung, die für Rechtsbehelfe gilt, mit denen die Verletzung des Unionsrechts gerügt wird, in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gelten, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind. Der Äquivalenzgrundsatz verlangt, dass nicht danach differenziert wird, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht oder gegen das innerstaatliche Recht gerügt wird.

Der EuGH sieht sich zu einer Entscheidung über das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Äquivalenzgrundsatz nicht veranlasst. Vielmehr verweist er auf die Prüfungskompetenz des vorlegenden Gerichts. In Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung wiederholt der EuGH, dass die Prüfung der Gleichartigkeit der Rechtsbehelfe im Hinblick auf ihren Gegenstand, ihren Rechtsgrund und ihre wesentlichen Voraussetzungen allein dem nationalen Gericht obliegt. Gleichzeitig verweist der EuGH auf den erweiterten Prüfungsumfang des vorlegenden Gerichts. Mit Blick auf die mögliche Verletzung des Äquivalenzgrundsatzes gibt der EuGH dem vorlegenden Gericht die Prüfung auf, ob die prozessualen Mittel, die der Klägerin im Bereich der Mehrwertsteuer zustehen, nicht ungünstiger sind als diejenigen die einem Steuerpflichtigen nach nationalem Recht hinsichtlich anderer Steuerarten zustehen. Stützt ein Steuerpflichtige einen Rechtsbehelf auf die Verletzung der unionsrechtlichen Vorschriften über das gemeinsamen Mehrwertsteuersystem, so kommt es für die Vergleichbarkeit der Verfahrensmodalitäten nicht nur auf das innerstaatliche umsatzsteuerrechtliche Verfahrensrecht, sondern auf das allgemeine mitgliedstaatliche Verfahrensrecht sowie die für anderen Steuerarten geltenden verfahrensrechtlichen Besonderheiten an.

Betroffene Normen

Art. 179, Art. 183 MwStSystRL

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 10.02.2022, Philips Orastie SRL, C-487/20

Ihre Ansprechpartner

Dr. Ulrich Grünwald
Partner

ugruenwald@deloitte.de
Tel.: +49 30 25468 258

Dr. Diana-C. Kurtz
Senior Manager

dkurtz@deloitte.de
Tel.: +49 89 29036 8025

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