EuGH: Unionsrechtskonformität einer nationalen Präklusionsfrist für die Erstattung des Vorsteuerüberhangs
Der EuGH äußert sich zum Spannungsverhältnis zwischen den unionsrechtlichen Strukturprinzipien und der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie im Zusammenhang mit einer nationalen Präklusionsfrist für die Erstattung des Vorsteuerüberhangs nach der Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit.
Hintergrund
Die Neutralität der Mehrwertsteuer, als eines der wichtigsten Grundprinzipien des europäischen Mehrwertsteuersystems, wird gewährleistet durch das Recht des Steuerpflichtigen zum Vorsteuerabzug. Gem. Art. 179 MwStSystRL ist der Vorsteuerabzug regelmäßig in dem Erklärungszeitraum vorzunehmen, in dem die Voraussetzungen vorliegen. Übersteigen die zu erstattenden Vorsteuern die geschuldete Umsatzsteuer, entsteht ein Vorsteuerüberhang. Die Mitgliedstaaten können Vorsteuerüberhänge entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen oder nach den von ihnen festgelegten Verfahrensmodalitäten erstatten (Art. 183 Abs. 1 MwStSystRL). Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie wird jedoch nicht schrankenlos gewährt, sondern vielmehr durch die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt (vgl. Deloitte Tax News; EuGH, Urteil vom 10.02.2022, Philips Orăştie, C-487/20; EuGH, Urteil vom 12.05.2011, C-107/10, Enel Maritsa Iztok 3).
Während Deutschland von der Option des Art. 183 MwStSystRL keinen Gebrauch gemacht hat, bestimmt das portugiesische Recht in Umsetzung von Art. 183 MwStSystRL unter anderem, dass bei Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit die Erstattung innerhalb von 12 Monaten nach Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit beantragt werden muss, andernfalls wird die Erstattung versagt. Im vorliegenden Fall ging es darum, ob eine solche Regelung mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Aus deutscher Sicht sind unter anderem die Ausführungen des EuGH zum Verlust der Unternehmereigenschaft von Interesse. Fraglich ist, ob diese eine allgemeine Aussagekraft über den entschiedenen Einzelfall hinaus entfalten.
Sachverhalt
Die Klägerin (Modexel – Consultores e Serviços SA) zeigte Ende Februar 2015 die Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit an. Aus ihrer ersten Quartalsmeldung für 2015 ergab sich ein Vorsteuerüberhang. Im Mai 2016 nahm die Klägerin ihre wirtschaftliche Tätigkeit wieder auf. In ihrer ersten MwSt-Erklärung nach der Wiederaufnahme ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit brachte die Klägerin das MwSt-Guthaben in Abzug. Die portugiesische Steuerverwaltung verweigerte die Erstattung wegen Verfristung. Die Klägerin hätte die Erstattung innerhalb von zwölf Monaten nach der Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit beantragen müssen. Der EuGH sollte klären, ob eine nationale Regelung, wonach ein Steuerpflichtiger, einen bei Aufgabe seiner wirtschaftlichen Tätigkeit deklarierten MwSt-Überschuss nur nach Antragstellung innerhalb einer zwölfmonatigen Ausschlussfrist erlangen kann, unionsrechtsgemäß ist.
Entscheidung des EuGH
Eine nationale Regelung, wonach ein Steuerpflichtiger einen MwSt-Erstattungsbetrag nur nach Antragsstellung innerhalb einer zwölfmonatigen Ausschlussfrist ab der Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit erlangen kann, ist unionsrechtsgemäß, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden.
Begründung
Der „folgende Zeitraum“ i.S.d. Art. 183 Abs. 1 MwStSystRL ist nach grammatikalischer Auslegung aufgrund der vom Richtliniengeber gewählten Formulierung im Singular, der Besteuerungszeitraum, der unmittelbar auf den Besteuerungszeitraum der Entstehung des Vorsteuerüberhangs folgt.
Das Recht auf Vorsteuerabzugs setzt eine wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen, der das Recht auf Vorsteuerabzug geltend macht, voraus. Die mit der Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit einhergehende Zäsur bewirkt, dass kein den Vortrag des Vorsteuerüberhangs ermöglichender Folgezeitraum i.S.d. Art. 183 Abs. 1 MwStSystRL existiert. Gibt ein Wirtschaftsteilnehmer seine wirtschaftliche Tätigkeit auf, ist die von Art. 183 Abs. 1 MwStSystRL vorausgesetzte Kontinuität durchbrochen.
Eine zwölfmonatige Ausschlussfrist ab dem Zeitpunkt der Entstehung des MwSt-Überschusses erschwert es einem (ehemaligen) Steuerpflichtigen nicht übermäßig, seinen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Daher ist der Effektivitätsgrundsatz, vorbehaltlich der Prüfung der tatsächlichen Umstände durch das vorlegende Gericht, nicht verletzt.
Anmerkung
Mit dem Urteil bestätigt der EuGH seine ständige Rechtsprechung, wonach die den Mitgliedstaaten zustehende Verfahrensautonomie zwar die Festlegung der Ausübungsmodalitäten für die Geltendmachung des Vorsteuerüberhangs erlaubt, der Umsetzungsspielraum jedoch in den Grundsätzen der Neutralität, Äquivalenz und Effektivität seine Grenzen findet (EuGH, Urteil vom 12.05.2021, C 844/19, technoRent International, Rz. 37 m.w.N.; EuGH, Urteil vom 10.02.2022, C 487/20, Philips Orăştie, Rz. 24; EuGH, Urteil vom 12.09.2024, C 429/23, NARE BG, Rz. 52).
Im Hinblick auf den Verlust der Unternehmereigenschaft stellt der EuGH auf die Aufgabe der Tätigkeit ab (EuGH, Urteil vom 05.12.2014, C 680/23, Modexel, Rz. 32). Aus Sicht der deutschen Finanzverwaltung endet die Unternehmereigenschaft grundsätzlich mit dem letzten Tätigwerden (Abschn. 2.6 Abs. 6 Satz 1 UStAE). Während ein vorübergehendes Ruhen der wirtschaftlichen Tätigkeit unmaßgeblich ist und eine lediglich unbestimmte Fortführungsabsicht die beendete Unternehmereigenschaft nicht wieder aufleben lässt, erlischt die Unternehmereigenschaft nach deutschem Rechtsverständnis mit der Abwicklung sämtlicher mit dem aufgegebenen Betrieb in Zusammenhang stehenden Rechtsbeziehungen (BFH, Urteil vom 21.04.1993, XI R 50/90, BStBl. II 1993 S. 696; BFH; Abschn. 2.6 Abs. 6 Satz 3). Da dem Sachverhalt keine Aussagen zur Existenz und Dauer einer sich an die Einstellung anschließenden Abwicklungsphase zu entnehmen sind, sollte den Feststellungen des EuGH zur Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit keine über den aktuell entschiedenen Fall hinausgehende, verallgemeinerungsfähige Bedeutung beigemessen werden. Denn zur Maßgeblichkeit der Beendigung der Abwicklungsphase als Anknüpfungspunkt für das Ende der Unternehmereigenschaft musste sich der EuGH mangels entsprechender Vorlagefrage im Fall Modexel nicht äußern.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 05.12.2014, C 680/23, Modexel
