EuGH: Vorsteuerabzug auch bei Angabe der Briefkastenadresse
Das Fehlen einer formalen Rechnungsvoraussetzung führt nicht zur Versagung des Vorsteuerabzugs. Die Angabe einer Anschrift unter der der Steuerpflichtige keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, unter der er jedoch postalisch erreichbar ist, stellt eine ordnungsgemäße Angabe im Sinne des Umsatzsteuerrechts dar und rechtfertigte keine Versagung des Vorsteuerabzugs.
Hintergrund
Nach Ansicht des BFH (Urteil vom 22.10.2015, V R 23/14) muss die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers auf einer Rechnung diejenige sein, unter der er seine wirtschaftliche Aktivität entfaltet. Der Vorsteuerabzug ist folglich nur dann zu gewähren, wenn neben den materiellen auch die formellen Voraussetzungen erfüllt und darüber hinaus auch noch eine wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen unter seiner Anschrift ausgeübt wird. Zweifel an der Unionsrechtskonformität dieses formalistischen Ansatzes kamen dem BFH jedoch nach dem EuGH Urteil vom 22.10.2015, C-277/14, PPUH Stehcemp. Darin urteilte der EuGH, dass einem Steuerpflichtigen nicht allein deshalb das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden darf, weil die Rechnung von einem „nicht existenten Wirtschaftsteilnehmer“ ausgestellt wurde (siehe auch Deloitte Tax-News). In der Folge richteten beide Senate des BFH beinahe identische Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (Az. VR 25/15, XI R 20/14; EuGH, C-374/16 und C-375/16, siehe Deloitte Tax-News, a.a.O.), in denen es im Wesentlichen darum ging, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Urteil
Das Urteil folgt den Schlussanträgen des Generalanwalts und wendet sich gegen die formalistische Ansicht des BFH. Das Recht auf Vorsteuerabzug darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Aussteller der Rechnung seine wirtschaftliche Tätigkeit unter der Anschrift auf der Rechnung tatsächlich auch entfaltet. Folglich ist auch die Angabe eines Briefkastensitzes eine „vollständige Anschrift“ im Sinne von § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG, die, sofern die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs vorliegen, zum Vorsteuerabzug berechtigt.
Anmerkung
Einmal mehr hat der EuGH entschieden, dass es nicht allein auf die Erfüllung von formalen Anforderungen ankommen kann, sofern tatbestandlich alle materiellen Voraussetzungen einer Norm vorliegen und ein Missbrauch durch den Steuerpflichtigen ausgeschlossen werden kann. Ebenso wie die Erfüllung der Voraussetzungen von Steuerbefreiungsnormen muss auch das Recht auf Vorsteuerabzug für den Steuerpflichtigen „machbar“ sein und bleiben. Während diese Entwicklung aus Sicht des Steuerpflichtigen erfreulich ist, führt es aus Sicht der Finanzverwaltung zu einem erhöhten Arbeitsaufwand. Allein das Auffinden von formalen Mängeln rechtfertigt nicht mehr die Versagung der Steuerbefreiung oder des Rechts auf Vorsteuerabzug. Die jetzige Relativierung des in den letzten Jahren zunehmenden formalistischen Ansatzes wird jedoch auch in Zukunft nicht dazu führen, dass die formalen Voraussetzungen einer Steuerbefreiung oder des Vorsteuerabzugsrechts überflüssig werden. In Bezug auf den vorliegenden Fall wird der BFH jedenfalls seine bisherige Ansicht revidieren müssen.
Betroffene Norm
Art. 178 Buchst. a, Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL; § 14 Abs. 1, 4 UStG; § 15 Abs. 1 UStG
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 15.11.2017, C‑374/16 und C‑375/16