FG Niedersachsen: Direktanspruch bei zivilrechtlicher Verjährung des Erstattungsanspruchs
Das FG Niedersachsen hat sich mit der Frage beschäftigt, ob ein Direktanspruch auf Erstattung von zu Unrecht in Rechnung gestellter und abgeführter Umsatzsteuer („Reemtsma-Anspruch“) bei Vermögenslosigkeit des Leistenden besteht, wenn der Erstattungsanspruch zivilrechtlich verjährt ist.
Hintergrund
Nach der EuGH-Rechtsprechung steht dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an den Lieferer entrichtet hat und die dieser an das Finanzamt abgeführt hat, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen unmittelbar gegen die Finanzverwaltung zu (EuGH-Urteil vom 15.03.2007, C-35/05, Reemtsma Zigarettenfabriken, siehe Deloitte Tax-News). Das ist der Fall, wenn der Empfänger die Erstattung nicht mehr vom Lieferanten fordern kann, da die Forderung bereits verjährt ist, und formal die Möglichkeit besteht, dass der Lieferer, nach Rechnungsberichtigung, im Nachhinein von der Finanzverwaltung die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangt (EuGH-Urteil vom 07.09.2023, C-453/22, Schütte, siehe auch Deloitte Tax-News). Wird die von der Finanzverwaltung zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, durch die Zahlung von Verzugsverzinsen auszugleichen (ähnlich auch bereits EuGH-Urteil vom 13.10.2022, C-397/21, HUMDA).
Nach der Rechtsprechung des BFH kann der Direktanspruch im Rahmen eines Billigkeitsverfahrens nach § 163 und § 227 AO geltend gemacht werden. Allerdings gilt das nach Ansicht der Finanzverwaltung (BMF-Schreiben vom 12.04.2022, siehe Deloitte Tax-News) nur unter bestimmten Voraussetzungen. Danach kann über einen geltend gemachten Direktanspruch u.a. so lange nicht entschieden werden, wie eine Berichtigung des Steuerbetrags durch den Leistenden noch möglich ist. Im Insolvenzverfahren wird daher regelmäßig erst nach dessen Abschluss über den Direktanspruch entschieden.
In dem vorliegenden Urteil des FG Niedersachsen geht es um einen Direktanspruch auf Erstattung zu Unrecht abgeführter Umsatzsteuer bei Vermögenslosigkeit des Leistenden und Verjährung des Erstattungsanspruchs.
Sachverhalt
Der Kläger bezog für seinen Sanitär- und Heizungsbaubetrieb auf der Grundlage von Nettopreisvereinbarungen Bauleistungen von der F-GmbH. Die in den Rechnungen als Umsatzsteuer ausgewiesenen Beträge zahlte der Kläger an die F und zog sie als Vorsteuern im Rahmen seiner Umsatzsteuererklärungen ab. Die F führte die vereinnahmte Umsatzsteuer ihrerseits an die Finanzbehörde ab. In der Folgezeit wurde die F wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen gelöscht.
Im Anschluss an eine Außenprüfung waren sich die Beteiligten darüber einig, dass es sich bei den von der F bezogenen Leistungen um Bauleistungen i. S. von § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 UStG handelte, für die der Kläger die Umsatzsteuer nach § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG schuldete. Da es sich bei den von F in Rechnung gestellten Beträgen nicht um die gesetzlich geschuldete Steuer i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG handelte, seien die abgezogenen Vorsteuerbeträge entsprechend rückgängig zu machen. Das Finanzamt erließ geänderte Umsatzsteuerbescheide. Der Kläger beantragte, die Steuer in Höhe der gekürzten Vorsteuerbeträge gem. § 163 AO niedriger festzusetzen. Das Finanzamt lehnte dies ab und berief sich auf die Einrede der Verjährung. Der Direktanspruch sei akzessorisch zu dem im Zeitpunkt der ersten Antragstellung bereits verjährten Erstattungsanspruch des Klägers gegen den Rechnungsaussteller.
Entscheidung
Die Voraussetzungen des Direktanspruchs liegen vor. Aus dem Grundsatz der Effektivität folgt, dass dem Leistungsempfänger auch dann der Direktanspruch zustehen muss, wenn die leistende GmbH zwischenzeitlich wegen Vermögenslosigkeit gelöscht und aufgelöst ist. Eine Nachtragsliquidation erscheint gegenüber dem Direktanspruch als unverhältnismäßig schwer im Sinne der EuGH-Rechtsprechung.
Betroffene Normen
§§ 13b, 15 UStG; §§ 163, 227, 233a AO
Anmerkungen
Im Hinblick auf die Frage, ob es sich grundsätzlich um einen Fall des Direktanspruchs handelt, wenn die leistende Gesellschaft zwischenzeitlich wegen Vermögenslosigkeit aufgelöst ist, wird das vorliegend sowohl vom FG als auch die Finanzverwaltung (Rz. 11, BMF-Schreiben vom 12.04.2022, siehe Deloitte Tax-News) bejaht. Die Besonderheit des Falles besteht darin, dass sich vorliegend nicht F, der ursprüngliche Lieferant, auf die Einrede der Verjährung berufen hat, da die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt bereits wegen Vermögenslosigkeit gelöscht war, sondern die Finanzverwaltung. Hierzu führt das FG aus, dass sich die Finanzverwaltung nicht mit Erfolg auf die Einrede der Verjährung berufen kann. Denn der Direktanspruch entsteht erst, wenn der Anspruch gegen den ursprünglichen Lieferanten aufgrund der Verjährung nicht mehr durchgesetzt werden kann. Es kann aber nicht erst der Anspruch durch die Einrede der Verjährung gegen den Erstattungsanspruch entstehen und sich andererseits die Finanzverwaltung akzessorisch auf diese Verjährung berufen.
Daneben wird deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob der Direktanspruch auf § 163 AO oder auf § 227 AO gestützt wird. Während im letztgenannten Fall mangels abweichender Steuerfestsetzung keine Erstattungszinsen nach § 233a Abs. 1 AO entstehen, ist das bei der Rückzahlung einer bereits gezahlten Steuer ab dem Zeitpunkt der Zahlung der Fall.
Aufgrund seiner grundsätzlichen Bedeutung ist das Urteil zur Revision beim BFH anhängig (XI R 27/24). Auch die Entscheidungen zum Direktanspruch des FG Baden-Württemberg (Urteil vom 06.12.2023, 14 K 1423/21) sowie die des FG Münster (Urteil vom 23.01.2024, 15 K 2327/20 AO) ist jeweils Revision eingelegt worden (FG Baden-Württemberg, BFH-anhängig: XI R 11/24; FG Münster, BFH-anhängig: XI R 17/24).
Fundstelle
Finanzgericht Niedersachsen, Urteil vom 25.08.2024, 5 K 40/22
Weitere Fundstellen
EuGH, Urteil vom 15.03.2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabrik GmbH gegen Minestero delle Finanze
EuGH, Urteil vom 07.09.2023, C-453/22, Schütte
BMF, Schreiben vom 12.04.2022, Direktanspruch in der Umsatzsteuer
