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01.12.2022
Internationales Steuerrecht

FG Münster: Passive Entstrickung führt nicht zur Besteuerung

Die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts allein durch die Änderung eines DBA ohne Zutun des Steuerpflichtigen (sog. passive Entstrickung) führt nicht zur Verwirklichung des Entstrickungstatbestands und damit zur Besteuerung eines Entnahmegewinns nach § 4 Abs. 1 S. 3 EStG (entgegen Auffassung der Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 26.10.2018, Nr. 1).

Sachverhalt

Die Klägerin war eine in Deutschland ansässige KG. Einer ihrer beiden Kommanditisten wohnte in Deutschland, der andere in der Schweiz. Die beiden Kommanditisten waren zugleich zu jeweils 50% an einer spanischen Kapitalgesellschaft (S.L.) beteiligt. Die Kommanditanteile waren dem Sonderbetriebsvermögen II der beiden Kommanditisten bei der KG zugeordnet. Die S.L. wies in ihrer Bilanz zum 31.12.2012 unbewegliches Vermögen aus, dass ca. 59 % der Bilanzsumme ausmachte.

Im Jahr 2012 trat ein neues Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Spanien und Deutschland (DBA Spanien) in Kraft, dessen Art. 13 Abs. 2 statuiert, dass bei Veräußerungsgewinnen aus Beteiligungen, deren Aktivvermögen zu mindestens 50 % aus unbeweglichem Vermögen besteht, nunmehr dem Belegenheitsstaat dieses Vermögens das Besteuerungsrecht zusteht. Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sieht das DBA Spanien eine Anrechnung der daraus folgenden Steuer im Wohnsitzstaat vor. Nach der zuvor geltenden Fassung des DBA Spanien hatte Deutschland (als Ansässigkeitsstaat des Veräußerers) das ausschließliche Besteuerungsrecht für Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften zugestanden.

Das Finanzamt sah durch diese DBA-Änderung eine passive Entstrickung der in dem Anteil des deutschen Kommanditisten an der spanischen S.L. ruhenden stillen Reserven ausgelöst und unterwarf diese gem. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG der deutschen Besteuerung.

Entscheidung

Das FG gelangt - entgegen der Auffassung des Finanzamtes - zu dem Ergebnis, dass es durch die Änderung des DBA Spanien nicht zur Besteuerung eines Entnahmegewinns nach § 4 Abs. 1 S. 3 EStG kommt.

Gesetzliche Grundlage

Nach § 4 Abs. 1 S. 3 EStG steht der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder Nutzung eines Wirtschaftsguts einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleich.

Auffassung der Finanzverwaltung und Meinungsstreit in der Literatur

Im Schrifttum ist streitig, ob der Fall der passiven Entstrickung – also der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts aufgrund rein rechtlicher Vorgänge wie das Inkrafttreten eines neuen DBA – vom Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG erfasst ist.

Von der Finanzverwaltung und einem Teil der Literatur wird vertreten, dass es für die Anwendung des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG nicht auf ein willentliches Handeln des Steuerpflichtigen ankommt, sondern der Entstrickungstatbestand auch allein durch eine Änderung der rechtlichen Ausgangssituation ausgelöst werden kann (vgl. BMF-Schreiben vom 26.10.2018 unter Nr. 1; Musil in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 4 EStG Rz. 230). Nach der im Schrifttum vertretenen Gegenauffassung erfordert eine Entstrickung i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG ein aktives Handeln des Steuerpflichtigen, da die Verwirklichung des Tatbestands dem Steuerpflichtigen ansonsten nicht zugerechnet werden kann (vgl. z.B. Meyer in Kirchhof/Kulosa/Ratschow, BeckOK EStG, 13. Edition, § 4 Rz. 663).

Auffassung des FG

Dieser letztgenannten Literaturauffassung schließt sich das FG nun in seinem aktuellen Urteil an.

Nach Ansicht des FG ist der Tatbestand des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil die Änderung des DBA Spanien weder der KG noch ihrem Kommanditisten zuzurechnen ist. So könne eine bloße Änderung der Rechtslage nicht zur Verwirklichung eines Besteuerungstatbestands führen, wenn diese allein darauf zurückzuführen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland ihr Besteuerungsrecht in eigener Souveränität ohne Mitwirkungshandlung des Steuerpflichtigen in völkerrechtlichen Verträgen neu ordnet (vgl. auch FG Köln, Urteil vom 17.06.2021, 15 K 888/18).

Systematische Gesichtspunkte

Nach dem systematischen Zusammenhang dieser Norm stellt laut FG der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleich. Aus der Gleichstellung mit der Entnahme folgert das FG, dass zumindest eine dem Steuerpflichtigen zuzurechnende Handlung zum Ausschluss oder der Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands vorliegen müsse. Ansonsten könne allein das Verhalten eines Dritten (hier: der Bundesrepublik Deutschland durch Änderung eines DBA) ohne Zutun des Steuerpflichtigen eine Steuerpflicht auslösen, was dem Gedanken der Gewinnermittlung gem. § 4 Abs. 1 EStG entgegenstünde.

Gesetzeshistorie

Auch aus der Gesetzeshistorie wird aus Sicht des FG ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Einführung von § 4 Abs. 1 S. 3 EStG keine Fälle der passiven Entstrickung erfassen wollte. Er habe vielmehr die zuvor von der Rechtsprechung entwickelte Theorie der finalen Entnahme, die die Überführung von Einzelwirtschaftsgütern in eine ausländische Betriebsstätte als gewinnwirksame Entnahme behandelt hatte, also lediglich Fälle der aktiven Entstrickung, gesetzlich umsetzen wollen.

Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 4g Abs. 1 EStG durch das ATAD-Umsetzungsgesetz vom 25.06.2021, wonach der Ausgleichsposten des § 4g Abs. 1 EStG „auch in Fällen einer sog. passiven Entstrickung gebildet“ werden könne. Denn nach dem FG kann die bei der Entstehung des ATAD-Umsetzungsgesetzes gefasste Intention nicht auf die gesetzeshistorische Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG, welche im Streitjahr anzuwenden ist, zurückwirken.

EU-Recht

Wenn der Tatbestand des § 4 Abs. 1 S. 3 EStG eine passive Entstrickung erfassen würde, so wäre die Vorschrift nach Auffassung des FG zudem insoweit europarechtswidrig. Das FG begründet dies damit, dass die im Streitjahr geltende Fassung des § 4g Abs. 1 EStG lediglich im Fall einer aktiven Entstrickung die (vom EuGH geforderte) Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs vorsieht (vgl. auch EuGH-Urteil vom 21.05.2015, C-657/02).

Betroffene Normen

§ 4 Abs. 1 S. 3 EStG, Art. 13 Abs. 2 DBA Spanien

Streitjahr 2013

Anmerkungen

Offengelassene Fragestellungen

Das FG hat in der o.g. Entscheidung die Frage, ob der Wechsel vom alleinigen Besteuerungsrecht zu einer Besteuerung unter Anrechnung der ausländischen Steuer bereits als Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 3 EStG einzustufen ist, ausdrücklich offengelassen.

Des Weiteren konnte das FG die Frage offenlassen, ob die Besteuerung einer fiktiven Gewinnrealisation ohne die Handlung des Steuerpflichtigen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.

Praxisrelevante Streitfrage

Die Frage, ob ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts oder der Nutzung eines Wirtschaftsguts ohne Zutun des Steuerpflichtigen (sog. passive Entstrickung) zur Verwirklichung des Entstrickungstatbestands führt, ist von erheblicher praktischer Relevanz. Diese Frage stellt sich nicht nur bei einer Änderung eines DBA (wie im oben dargestellten Streitfall), sondern auch im Zusammenhang mit der Einführung des Authorised OECD Approach (AOA) in § 1 Abs. 5 AStG bei personallosen Betriebsstätten (siehe nächste Anmerkung) und auch im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzung des DEMPE-Konzepts in § 1 Abs. 3c AStG (siehe auch Deloitte Tax News).

BFH-Beschluss vom 24.11.2021 (I B 44/21 (AdV))

Der BFH äußerte in einem AdV-Beschluss (Beschluss vom 24.11.2021 (I B 44/21 (AdV)) ernstliche Zweifel daran, ob nach dem – aufgrund der Einführung des Authorised OECD Approach (AOA) – neu gefassten § 1 Abs. 4 bis 6 AStG Wirtschaftsgüter, die bisher einer personallosen inländischen Betriebsstätte zuzuordnen waren, nunmehr einer ausländischen Geschäftsleitungsbetriebsstätte zuzuordnen sind und dadurch ein Entnahmegewinn nach § 4 Abs. 1 S. 3 und S. 4 EStG entsteht. Im Streitfall konnte der BFH die Frage, ob der Tatbestand der Entstrickungsregelungen in § 4 Abs. 1 S. 3 EStG auch bei einer sog. passiven Entstrickung zur Anwendung kommt, allerdings offenlassen (siehe Deloitte Tax News). Die Vorinstanz (FG Saarland) hatte dies als ernstlich zweifelhaft angesehen (vgl. FG Saarland, Beschluss vom 30.03.2021, 1 V 1374/20, siehe Deloitte Tax News).

Fundstelle

Finanzgericht Münster, Urteil vom 10.08.2022, 13 K 559/19 G,F, BFH-anhängig: I R 41/22

Weitere Fundstellen

FG Köln, Urteil vom 17.06.2021, 15 K 888/18, EFG 2021, S. 1876

BMF-Schreiben vom 26.10.2018, IV B 5 - S 1348/07/10002-01, BStBl. I 2018, S. 1104, siehe Deloitte Tax-News

EuGH, Urteil vom 21.05.2015, C-657/02 „Verder Lab Tec“

BFH, Beschluss vom 24.11.2021, I B 44/21 (AdV), siehe Deloitte Tax News

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