BFH: Steuerliche Berücksichtigung eines Verlusts aus der Veräußerung von Aktien
Eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG, also eine entgeltliche Anteilsübertragung, liegt auch dann vor, wenn wertlose Anteile ohne Gegenleistung oder gegen einen symbolischen Kaufpreis übertragen werden bzw. wenn der Veräußerungspreis die Transaktionskosten nicht übersteigt. Die Erfüllung des Tatbestands der Veräußerung ist daher insbesondere weder von der Höhe der Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig (mittlerweile auch Sichtweise der Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 10.05.2019).
Sachverhalt
Der Kläger hatte in den Jahren 2009 und 2010 Aktien erworben und diese im Streitjahr 2013 an eine Sparkasse wieder veräußert, die Transaktionskosten in der gleichen Höhe des Verkaufspreises einbehielt. Über den aus der Veräußerung der Aktien entstandenen Verlust stellte die Sparkasse keine Bescheinigung aus. In seiner Einkommensteuererklärung 2013 machte der Kläger den Verlust bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend und stellte den Antrag auf Überprüfung des Steuereinbehalts gemäß § 32d Abs. 4 EStG. Das Finanzamt berücksichtigte die Verluste nicht. Der dagegen gerichteten Klage gab das FG statt.
Entscheidung
Der BFH kommt übereinstimmend mit der Auffassung des FG zu dem Schluss, dass im Streitfall ein steuerlich anzuerkennender Verlust gemäß § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Abs. 4 S. 1 EStG vorliegt, der (im Rahmen der Antragsveranlagung nach § 32d Abs. 4 EStG) mit Gewinnen aus Aktienveräußerungen zu verrechnen ist.
Steuerlich anzuerkennender Veräußerungsverlust
Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören gemäß § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG auch Gewinne aus der Veräußerung von Aktien. Vom Anwendungsbereich des Gesetzes ist gemäß § 20 Abs. 4 und Abs. 6 EStG auch ein Veräußerungsverlust erfasst (vgl. BFH-Urteil vom 12.01.2016).
Eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG ist jede entgeltliche Übertragung des – zumindest wirtschaftlichen – Eigentums auf einen Dritten (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 24.10.2017). Eine entgeltliche Anteilsübertragung in diesem Sinne liegt auch vor, wenn wertlose Anteile zwischen fremden Dritten ohne Gegenleistung (vgl. BFH-Urteil vom 24.10.2017) oder gegen einen lediglich symbolischen Kaufpreis (vgl. BFH-Urteil vom 06.04.2011) übertragen werden.
Daher liegt nach Auffassung des BFH insbesondere auch dann eine Veräußerung vor, wenn der Veräußerungspreis die tatsächlichen Transaktionskosten nicht übersteigt (entgegen BMF-Schreiben vom 18.01.2016). Die Erfüllung des Tatbestands der Veräußerung ist damit weder von der Höhe der Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig. Im Streitfall ist damit wegen der entgeltlichen Übertragung der Aktien auf die Sparkasse von einem steuerlich anzuerkennenden Veräußerungsverlust i.S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Abs. 4 S. 1 EStG auszugehen.
Kein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten
Auch ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 42 AO ist nicht anzunehmen, so der BFH. Der Steuerpflichtige darf seine Verhältnisse grundsätzlich so gestalten, dass keine oder möglichst geringe Steuern anfallen (vgl. BFH-Urteil vom 19.01.2017) und dabei vom Gesetz vorgesehene, zivilrechtliche Gestaltungen frei verwenden (vgl. BFH-Urteil vom 22.06.2017). Eine rechtliche Gestaltung ist erst dann unangemessen, wenn der Steuerpflichtige zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 08.03.2017).
Der Kläger verfolgte das Ziel, sich von den nahezu wertlosen Wertpapieren durch Übertragung auf einen Dritten zu trennen. Da § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG die Veräußerung von Aktien ausdrücklich vorsieht, hat der Kläger lediglich von einer ihm durch das Gesetz eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass ein Verlustgeschäft vorliegt. Es steht grundsätzlich im Belieben des Steuerpflichtigen, ob, wann und mit welchem erzielbaren Ertrag er Wertpapiere erwirbt und wieder veräußert (vgl. BFH-Urteil vom 25.08.2009).
Verlustverrechnung trotz fehlender Bescheinigung
Dass der Kläger keine Steuerbescheinigung der Sparkasse über den entstandenen Verlust vorlegen konnte (vgl. § 20 Abs. 6 S. 6 EStG), stand der Verlustverrechnung nach der bereits gefestigten Rechtsprechung des BFH nicht entgegen. Die Bescheinigung ist entbehrlich, wenn - wie im Streitfall - keine Gefahr der Doppelberücksichtigung des Verlusts besteht (vgl. BFH-Urteil vom 20.10.2016).
Betroffene Norm
§ 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG, § 20 Abs. 4 EStG, § 20 Abs. 6 EStG, § 32d Abs. 4 EStG
Streitjahr 2013
Anmerkungen
BFH-Urteil vom 29.09.2020, VIII R 9/17
Mit Urteil vom 29.09.2020 hat der BFH seine Rechtsprechung im Urteil vom 12.06.2018 bestätigt, wonach eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG weder von der Höhe der Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig ist. Dieser Auffassung hatte sich zuletzt auch die Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 10.05.20219 angeschlossen. Im Urteil vom 29.09.2020 hat der BFH seine Rechtsprechung nun insoweit erweitert, als er in der Veräußerung wertloser Aktien auch dann keinen Gestaltungsmissbrauch i.S. des § 42 AO sieht, selbst wenn sich der Verkäufer verpflichtet, vom Käufer wertlose Aktien zu kaufen. Diese gewählte Art der Veräußerung stelle eine durch das Gesetz eingeräumte Möglichkeit dar, zumal mögliche Kurssteigerungen der erworbenen Aktien steuerverstrickt sind.
BMF-Schreiben vom 10.05.2019
Das BMF hat seine gegenteilige Auffassung mit Schreiben vom 10.05.2019 aufgegeben. Die Definition des Veräußerungsbegriffs in Tz. 59 des BMF-Schreibens vom 18.01.2016 wird um folgenden Satz ergänzt: „Eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG ist weder von der Höhe der Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig“. Es wird nicht beanstandet, wenn die Änderung für die Kapitalertragsteuererhebung erstmals auf Kapitalerträge, die ab dem 01.01.2020 zufließen, angewendet wird.
Steuerliche Beurteilung der Ausbuchung von wertlos gewordenen Aktien weiterhin offen
Mit dem vorliegenden Urteil vom 12.06.2018 hat der BFH weitere Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge geklärt. Offen bleibt allerdings weiterhin, wie die bloße Ausbuchung von wertlos gewordenen Aktien aus dem Wertpapierdepot des Steuerpflichtigen steuerrechtlich zu beurteilen ist.
Vorinstanz
Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 26.10.2016, 2 K 12095/15, EFG 2017, S. 132
Fundstellen
BMF, Schreiben vom 10.05.2019, IV C 1 - S 2252/08/10004 :026
BFH, Urteil vom 12.06.2018, VIII R 32/16, lt. BMF-Schreiben vom 11.06.2019 zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen
Pressemitteilung 49/2018
BFH, Urteil vom 29.09.2020, VIII R 9/17, lt. BMF zur Veröffentlichung im BStBl. II vorgesehen
Weitere Fundstellen
BFH, Urteil vom 24.10.2017, VIII R 13/15, BFHE 259, S. 535
BFH, Urteil vom 22.06.2017, IV R 42/13, BFHE 259, S. 258
BFH, Urteil vom 08.03.2017, IX R 5/16, BStBl II 2017, S. 930, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 19.01.2017, IV R 10/14, BStBl II 2017, S. 466, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 20.10.2016, VIII R 55/13, BStBl II 2017, S. 264
BFH, Urteil vom 12.01.2016, IX R 48/14, BStBl II 2016, S. 456, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 06.04.2011, IX R 61/10, BStBl II 2012, S. 8, siehe Deloitte Tax-News
BFH, Urteil vom 25.08.2009, IX R 55/07, BFH/NV 2010, S. 387
BMF, Schreiben vom 18.01.2016, IV C 1-S 2252/08/10004, BStBl I 2016, S. 85