BMF: Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die Auslegung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
Nach der Finanzverwaltung ist der OECD-Musterkommentar in seiner jeweils zum Anwendungszeitpunkt geltenden Fassung - unter Beachtung von eingelegten Vorbehalten/ Bemerkungen der OECD-Mitgliedstaaten- bei der Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen zu berücksichtigen.
Hintergrund
Mit Urteil vom 11.07.2018 (I R 44/16) hatte der BFH bekräftigt, dass Neufassungen des OECD-Musterkommentars keine Auswirkungen auf die Auslegung bestehender Abkommen haben können. Änderungen des Musterkommentars könnten bei einer späteren Änderung eines Doppelbesteuerungsabkommens (im Folgenden: DBA) nur dann bei der Auslegung berücksichtigt werden, wenn sich die Musterkommentierung in einem geänderten Abkommenswortlaut und einem entsprechenden Transformationsgesetz niedergeschlagen habe.
Mit Schreiben vom 19.04.2023 nimmt die Finanzverwaltung zu o.g. Urteil bzw. (insgesamt) zur Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die Auslegung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Stellung.
Verwaltungsanweisung
Im Folgenden geben wir einen Überblick über die wichtigsten Aussagen des BMF-Schreibens vom 19.04.2023.
Der OECD-Kommentar ist – unter Berücksichtigung der in ihm enthaltenen Bemerkungen („observations“) der OECD-Mitgliedstaaten – als ein widerlegliches Indiz für die Staatenpraxis der OECD-Mitgliedstaaten bei der Auslegung der dem OECD-Musterabkommen entsprechenden Vorschriften ihrer DBA anzusehen.
Nach dem Beschluss des OECD-Council vom 23.10.1997 empfiehlt der OECD-Rat, die OECD-Kommentierung in ihrer jeweils zum Anwendungszeitpunkt aktuellen Fassung zu befolgen. Da die Regierungen der OECD-Mitgliedstaaten im Rahmen des o.g. Beschlusses (weiterhin) aufgefordert sind, ihre Vorbehalte zu den Artikeln und Bemerkungen zu den Kommentaren mitzuteilen, kann daraus dieser "Umkehrschluss" gezogen werden: Ein OECD-Mitgliedstaat, der keine Bemerkung gegen eine Kommentierung im OECD-Kommentar eingelegt hat, teilt die Kommentierung.
Die Finanzverwaltung vertritt die Auffassung, dass der OECD-Kommentar in Übereinstimmung mit Artikel 31 Abs. 3 Buchst. b) WÜRV (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (BGBl. II 1985, S. 926)) in seiner jeweils zum Anwendungszeitpunkt geltenden Fassung bei der Bestimmung der Auslegung von Vorschriften des OECD-Musterabkommens bzw. diesen entsprechenden Vorschriften von zwischen OECD-Mitgliedstaaten bestehenden DBA im Sinne der o.g. Indizwirkung zu berücksichtigen ist. Dies gelte insbesondere für nachträgliche Ergänzungen und Präzisierung der Kommentierung.
Die Indizwirkung des OECD-Kommentars ist für die innerstaatliche Anwendung widerlegt, wenn sich ein anderes Abkommensverständnis aus einem BMF-Schreiben oder einer sonstigen Verwaltungsanweisung ergibt. Die Bindungswirkung von BMF-Schreiben oder anderen Verwaltungsanweisungen für die Finanzverwaltung wird daher durch den OECD-Kommentar nicht berührt.
Betroffene Normen
Art. 31 WÜRV
Anmerkungen
Nach Artikel 31 Abs. 3 Buchst. a und b WÜRV sind bei der Vertragsauslegung a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen.
Fundstelle
BMF, Schreiben vom 19.04.2023, IV B 2 - S 1301/22/10002 :004
Weitere Fundstellen
BFH, Urteil vom 11.07.2018, I R 44/16, BStBl. II 2023, S. XXX
