EuGH: Keine Berücksichtigung von Verlusten bei grenzüberschreitender Sitzverlegung
Verluste, die eine Gesellschaft in einem Besteuerungszeitraum erlitten hat, bevor sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat und dort steuerlich ansässig wurde, müssen im anderen Mitgliedstaat nicht berücksichtigt werden. Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit liegt nicht vor.
Sachverhalt
Eine Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden erlitt im Steuerjahr 2007 Verluste, die vom niederländischen Finanzamt nach Maßgabe des niederländischen Steuerrechts festgesetzt wurden. Im Jahr 2009 verlegte die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und folglich auch ihre Steueransässigkeit von den Niederlanden in die Tschechische Republik. Die Gesellschaft beantragte bei den tschechischen Steuerbehörden von der Bemessungsgrundlage der von ihr für das Steuerjahr 2012 geschuldeten Körperschaftsteuer den im Steuerjahr 2007 in den Niederlanden entstandenen Verlust abzuziehen.
Das tschechische Finanzamt vertrat die Auffassung, dass der steuerliche Verlust nicht geltend gemacht werden kann, da dieser nicht aus einer wirtschaftlichen Tätigkeit in der Tschechischen Republik stamme und nicht nach den Bestimmungen des tschechischen Steuerrechts festgesetzt worden sei.
Entscheidung
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) durch die tschechische Regelung, die eine Berücksichtigung des in den Niederlanden entstandenen Verlusts verwehrt, nicht verletzt ist.
Anwendung von Art. 49 AEUV
Der EuGH bestätigt unter Berufung auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. EuGH-Urteil vom 29.11.2011, C-371/10 (National Grid Indus)), dass der Anwendungsbereich von Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) in diesem Fall eröffnet ist.
Statthafte Ungleichbehandlung aufgrund nicht vergleichbarer Situationen
Der Ausschluss der Abziehbarkeit der in den Niederlanden in 2007 entstandenen Verluste nach dem tschechischen Steuerrecht stelle eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu einem rein innerstaatlichen Sachverhalt dar. Eine solche Ungleichbehandlung ist nur statthaft, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (vgl. u.a. EuGH-Urteil vom 17.12.2015, C-388/14 (Timac Agro)). Aus Sicht des EuGH betrifft die Ungleichbehandlung im Streitfall keine „vergleichbaren“ Situationen. Eine beispielsweise in der Tschechischen Republik ansässige Gesellschaft, die in der Tschechischen Republik Verluste erlitten hat, befinde sich nicht in einer vergleichbaren Situation wie die Gesellschaft im Streitfall, die ihre Verluste in einem Besteuerungszeitraum erlitten hat, in dem sie in der Tschechischen Republik noch nicht steueransässig war (vgl. EuGH-Urteil vom 17.12.2015, C-388/14 (Timac Agro)). Darüber hinaus ziele die tschechische Regelung darauf ab, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und die Gefahr eines doppelten Verlustabzugs, die grundsätzlich einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit rechtfertigt (vgl. EuGH-Urteil vom 13.12.2005, C-446/03 (Marks & Spencer)), zu vermeiden.
Keine Anwendung der bisherigen Rechtsprechung zu sog. „finalen“ Verlusten
Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH-Urteil vom 12.06.2018, C-650/16 (Bevola)) wird die Vergleichbarkeit der Situationen bei Vorliegen von sog. „finalen“ Verlusten ausnahmsweise bejaht. Konkret hatte der EuGH entschieden, dass eine Gesellschaft mit einer gebietsfremden Betriebsstätte, die jede Tätigkeit eingestellt hat und deren Verluste in ihrem Mitgliedsstaat endgültig nicht mehr berücksichtigt werden, sich in einer vergleichbaren Situation befindet wie eine Gesellschaft mit einer gebietsansässigen Betriebsstätte, obwohl die Situationen dieser beiden Gesellschaften grundsätzlich nicht vergleichbar seien. Nach dem EuGH kann diese Rechtsprechung zu den „finalen“ Verlusten im Streitfall nicht angewandt werden, da im Streitfall im Verlustentstehungsjahr die Gesellschaft ausschließlich in den Niederlanden steuerlich ansässig war und keine Situation vorlag, bei der sich eine Gesellschaft und ihre Betriebsstätte während desselben Besteuerungszeitraums in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten befinden.
Eine Anwendung der bisherigen Rechtsprechung zu den „finalen“ Verluste auf den Streitfall wäre auch nicht mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur Wegzugsbesteuerung vereinbar. Nach dieser Rechtsprechung steht die Niederlassungsfreiheit einer Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse im Falle einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat nicht entgegen (vgl. EuGH-Urteil vom 29.11.2011, C-371/10 (National Grid Indus)). Folglich könne der Zuzugsstaat auch nicht dazu verpflichtet werden, die Verluste, die sich auf Besteuerungszeiträume beziehen, für die dieser Mitgliedstaat über keine Steuerhoheit gegenüber dieser Gesellschaft verfügte, zu berücksichtigen.
Betroffene Normen
Art. 49 AEUV, Art. 54 AEUV
Streitjahr 2012
Anmerkungen
Der EuGH hat sich in der Rechtssache „Aures Holdings“ soweit ersichtlich erstmalig mit der Frage der Berücksichtigung von Verlustvorträgen bei grenzüberschreitender Sitzverlegung beschäftigt und entschieden, dass ein periodenübergreifender Import von Verlusten in einen anderen Mitgliedstaat unionsrechtlich nicht geboten ist. Offen bleibt, ob der EuGH anders entschieden hätte, wenn die niederländische Gesellschaft im Streitfall bereits im Verlustentstehungsjahr in der Tschechischen Republik eine Betriebsstätte unterhalten hätte.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 27.02.2020, C-405/18 (Aures Holdings), IStR 2020, S. 267
Weitere Fundstellen
EuGH-Urteil vom 29.11.2011, C-371/10 (National Grid Indus)
EuGH-Urteil vom 17.12.2015, C-388/14 (Timac Agro), siehe Deloitte Tax News
EuGH-Urteil vom 13.12.2005, C-446/03 (Marks & Spencer)
EuGH-Urteil vom 12.06.2018, C-650/16 (Bevola), siehe Deloitte Tax News