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26.03.2012
Verfahrensrecht

Niedersächsisches FG: Mindestbesteuerung nach § 10d Abs. 2 EStG als sachliche Unbilligkeit i.S.d. § 163 AO

Es kann eine sachliche Unbilligkeit i.S.d. § 163 AO anzunehmen sein, wenn es durch die Anwendung des § 10d Abs. 2 EStG zu einem endgültigen Ausschluss des Verlustausgleichs aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bei gleichzeitiger Besteuerung verbleibenden Einkommens kommt.

Sachverhalt

Die Klägerin ist eine in Liquidation befindliche GmbH. Die Gesellschafterversammlung vom 30.11.2006 beschloss die Auflösung der Gesellschaft. Die Liquidation wurde zum 30.11.2008 beendet. Die Klägerin erklärte in ihrer Körperschaftsteuererklärung 2006 einen Jahresfehlbetrag. Das Finanzamt wertete dies dahingehend, dass die Klägerin für das Jahr 2006 entsprechend der Regelung in R 50 Abs. 1 Satz 3 der Körperschaftsteuerrichtlinien ihr Wahlrecht mit der Maßgabe ausgeübt habe, kein Rumpfwirtschaftsjahr zu bilden. Das Finanzamt setzte die Körperschaftsteuer für 2006 i.H.v. 0 Euro fest und stellte den verbleibenden Verlustvortrag auf den 31.12.2006 gesondert fest. Die Klägerin erzielte im Liquidationszeitraum einen Gewinn. Mit Abgabe der Körperschaftsteuererklärung für den Liquidationszeitraum beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 14.01.2010, die Körperschaftsteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen gem. § 163 AO auf 0 Euro festzusetzen. Zur Begründung trug sie vor, die Verlustbeschränkungen nach § 10d Abs. 2 EStG seien vom Gesetzgeber mit dem Ziel einer Vereinfachung und Verstetigung des Steueraufkommens beschlossen worden. An die Möglichkeit eines Untergangs der Verlustvorträge aufgrund einer Liquidation habe der Gesetzgeber augenscheinlich nicht gedacht. Das Finanzamt folgte dem Antrag nicht. Es ermittelte unter Berücksichtigung der Verlustabzugsbeschränkungen des § 10d Abs. 2 EStG einen Verlustabzug und ein danach verbleibendes zu versteuerndes Einkommen. Zur Begründung führte das Finanzamt aus, der Gesetzgeber habe im Rahmen der Neufassung des § 10d Abs. 2 EStG offensichtlich nicht gewollt, dass im Fall einer Liquidation ein nach Berücksichtigung von § 10d EStG verbleibendes Einkommen nicht besteuert werde. Eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte unbillige Härte scheide aus.

Entscheidung

Die Unbilligkeit der Steuerfestsetzung i.S.d. § 163 AO kann sich aus persönlichen oder - wie im Streitfall - aus sachlichen Gründen ergeben. Sachliche Gründe sind gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH-Urteil vom 26.05.1994).

Die Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO sind Ermessensentscheidungen. Das Finanzamt habe die Voraussetzungen des § 163 Satz 1 AO ermessensfehlerhaft verneint. Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Neufassung des § 10d Abs. 2 EStG deren überschießende Wirkung in einer Vielzahl von Fallsituationen - z.B. wie der im Streitfall vorliegenden Liquidation - bewusst in Kauf genommen habe (BFH-Beschluss vom 26.08.2010). Die Gesetzesmaterialien ließen einen anderen Schluss zu. In der Begründung zum Regierungsentwurf des § 10d Abs. 2 EStG n.F. werde darauf hingewiesen, dass durch die sog. Mindestbesteuerung "keine Verluste endgültig verloren" gehen würden. Insofern könne eine sachliche Unbilligkeit anzunehmen sein, wenn es durch die Anwendung des § 10d Abs. 2 EStG - wie im Streitfall - nicht nur zu einer Beschränkung des Verlustausgleichs im Sinne einer zeitlichen Verschiebung kommt, sondern zu einem endgültigen Ausschluss des Verlustausgleichs aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bei gleichzeitiger Besteuerung verbleibenden Einkommens.

Darüber hinaus habe das Finanzamt die Umstände des Streitfalles nicht hinreichend gewürdigt, maßgeblich die Besonderheiten des Liquidationszeitraums nach § 11 KStG nicht berücksichtigt. Zumindest hätte im Rahmen der Ermessensentscheidung i.S. des § 163 AO berücksichtigt werden müssen, dass bei Ansatz eines Liquidationszeitraums ab 01.01.2006 bzw. 01.12.2006 aufgrund der Verluste im Jahr 2006 weiteres Verlustausgleichpotential zur Verfügung gestanden hätte. Darüber hinaus habe das Finanzamt nicht berücksichtigt, dass - ohne Anwendung eines besonderen Besteuerungszeitraums nach § 11 Abs. 1 Satz 1 KStG - die Regelung des § 10d Abs. 2 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG der Klägerin jeweils für die Veranlagungszeiträume 2007 und 2008 ein Verlustabzugsvolumen im Grundbetrag von 1 Mio. Euro (mithin bereits 2 Mio. Euro) zugebilligt hätte, die Regelung des § 10d Abs. 2 EStG bei Anwendung des Besteuerungszeitraums i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 1 KStG den Verlustabzugs also im erhöhten Maße hinauszuzögern bzw. zu beschränken vermag.

Der Anwendbarkeit des § 163 Satz 1 AO stehe nicht entgegen, dass der Grund, der für eine sachliche Unbilligkeit spricht, nämlich die absehbare Definitivbesteuerung in Liquidationsfällen, zumindest auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm begründe. Das Finanzamt werde daher die Klägerin nach § 101 Satz 2 FGO unter Berücksichtigung und Abwägung der o.g. Umstände bescheiden müssen. Das Gericht könne dem Finanzamt hinsichtlich des Umfangs der Ermessensausübung keine Vorgaben machen, sondern nur darlegen, welche Umstände insbesondere zu berücksichtigen seien. Der erkennende Berichterstatter könne eine Billigkeitsfestsetzung auf 0 Euro nicht selbst aussprechen, da eine sog. Ermessensreduzierung auf Null nicht gegeben sei. Insofern habe das Finanzamt zutreffend darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber in anderen Fällen den Untergang steuerlicher Verluste hinnehme.

Betroffene Normen

§ 10d Abs. 2 EStG, § 163 AO

Anmerkungen

Der BFH hat die Revision als unzulässig verworfen. Das Finanzamt hat die Revision nicht rechtzeitig begründet. Damit wurde die Frage, ob ein sich auf Grund der Mindestbesteuerung ergebender endgültiger Ausschluss des Verlustausgleichs sachlich unbillig ist, vom BFH nicht beantwortet.

Der BFH hat mit Urteil vom 22.08.2012 nun entschieden, dass insoweit keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Verlustausgleichsbeschränkung bestehen, als der Verlustausgleich nicht versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt wird. Ob dies in Definitivsituationen anders zu würdigen ist, konnte offenbleiben, weil sich der spätere Ausschluss einer steuerlichen Ausgleichsmöglichkeit für die klagende Kapitalgesellschaft im Streitjahr nicht hinreichend sicher prognostizieren ließ. Für Sachverhalte, in denen sich eine solche Prognose treffen lässt, steht die Antwort auf die Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Mindestbesteuerung nach wie vor aus.
BFH, Urteil vom 22.08.2012, I R 9/11, siehe Deloitte Tax-News

Fundstelle

Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 02.01.2012, 6 K 63/11

Weitere Fundstellen

BFH, Urteil vom 26.05.1994, IV R 51/93, BStBl 1994 II, S. 833
BFH, Beschluss vom 26.08.2010, I B 49/10, BStBl 2011 II, S. 826
Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz, BT Drs. 15/1518

Englische Zusammenfassung

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