Führt die Stornierung und Neuausstellung von Rechnungen nach der bestandskräftigen Ablehnung der Vorsteuervergütung dazu, dass die auf die ursprünglich fehlerhaften Rechnungen gestützte Erstattung im Zeitraum der Vorlage der neu ausgestellten Rechnung beantragt werden kann?
In der Rechtsprechung mangelt es nicht an Entscheidungen, die die unterschiedlichen Aspekte einer Rechnung als Voraussetzung für den Vorsteuerabzug beleuchten. In den Entscheidungen Senatex und Barlis06 (EuGH Urteile vom 15.09.2016, C-518/14, siehe auch Deloitte Tax-News und C-516/14, siehe auch Deloitte Tax-News) betont der EuGH, dass formelle Aspekte zum Nachteil des Steuerpflichtigen nicht überbewertet werden dürfen und Mängel bei der Rechnungsstellung mit Rückwirkung geheilt werden können. Aus den Entscheidungen Volkswagen und Biosafe (EuGH Urteil vom 21.03.2018, C-533/16, Volkswagen; EuGH Urteil vom 12.04.2018, C-8/17, Biosafe) folgt, dass ohne eine Rechnung mit Steuerausweis der Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht werden kann. Fristen zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs laufen daher nicht ab, bevor der Steuerpflichtige in Besitz einer derartigen Rechnung ist. Allen Entscheidungen ist gemein, dass das Recht auf Vorsteuerabzug neben dem Vorliegen der materiellen Voraussetzungen den Besitz einer (ordnungsgemäßen) Rechnung voraussetzt.
Der BFH schloss sich der Rechtsprechung des EuGH an. Darüber hinaus legte der BFH bestimmte Mindestpflichtangaben (zuletzt mit Urt. v. 12.3.2020, V R 48/1) fest, die eine Rechnung aufweisen muss, damit der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden kann bzw. es sich überhaupt um eine berichtigungsfähige Rechnung handelt. Der Fall einer zuvor fehlerhaft erteilten Rechnung ist damit abzugrenzen vom Fall der fehlenden Rechnung. Diese Ansicht geriet durch die Auslegung der EuGH Entscheidung Vădan (EuGH Urt. v. 21.11.2018, C-664/16) im Schrifttum ins Wanken und mündete schließlich in die Diskussion, ob ein Vorsteuerabzug gänzlich ohne Rechnung möglich ist. Sowohl der BFH als auch die Finanzverwaltung (BMF, Schreiben vom 18.09.2020, III C 2 - S 7286-a/19/10001 :001, Rz. 11; Abschn. 15.2a Abs. 1a Satz 4 UStAE) setzen hingegen das Vorliegen einer (berichtigungsfähigen) Rechnung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug voraus. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob die Stornierung und Neuausstellung von Rechnungen nach bestandskräftiger Ablehnung der Vorsteuervergütung dazu führen, dass die auf die ursprünglich fehlerhaften Rechnungen gestützte Erstattung im Zeitraum der Vorlage der neu ausgestellten Rechnung beantragt werden kann.
Eine Gesellschaft mit Sitz in Frankreich kaufte im Jahr 2012 bei einer rumänischen Gesellschaft Produktionsgeräte. Sie beantragte die Erstattung der Vorsteuer. Der Antrag wurde abgelehnt, da die vorgelegten Rechnungen nicht die gesetzlichen Rechnungsanforderungen erfüllten. Daraufhin stornierte die rumänische Gesellschaft die fehlerhaften Rechnungen und stellte im Jahr 2015 neue Rechnungen aus. Auf der Grundlage dieser Rechnungen beantragte die Klägerin die Vorsteuererstattung für den Vergütungszeitraum 2015. Der Erstattungsantrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Vorsteuer den falschen Besteuerungszeitraum betraf und über die Vorsteuererstattung auch bereits bestandskräftig entschieden worden sei. Hiergegen wandte sich der Kläger von dem vorlegenden rumänischen Gericht. Der EuGH sollte die Frage klären, welcher Zeitpunkt für die Erstattung der Vorsteuer der maßgebliche ist.
Der EuGH hat entschieden, dass der Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer in dem Zeitpunkt geltend zu machen ist, indem der Steuerpflichtige erstmals im Besitz einer Rechnung im Sinne der MwStSystRL ist. Nur wenn ein Dokument so fehlerhaft ist, dass der nationalen Steuerverwaltung, die zur Begründung eines Erstattungsantrags erforderlichen Angaben fehlen, kann davon ausgegangen werden, dass ein solches Dokument keine Rechnung im Sinne der MwStSystRL darstellt. Des Weiteren darf die Erstattung der Vorsteuer nicht verwehrt werden, wenn die Steuer in einem früheren Besteuerungszeitraum entstanden ist, die Rechnung aber später empfangen wurde.
Die formellen Voraussetzungen im Vorsteuervergütungsverfahren sind strenger als die im Regelbesteuerungsverfahren. Der EuGH stellt klar, dass der Steuerpflichtige den Erstattungsanspruch im Vorsteuervergütungsverfahren nur in dem Zeitraum geltend machen kann, indem der Steuerpflichtige erstmals im Besitz einer Rechnung ist. Durch Stornierung und Neuausstellung von Rechnungen ohne sachlichen Grund kann sich der Steuerpflichtige daher nicht den Zeitraum der Vorsteuerabzugsberechtigung aussuchen. Der Erstattungsantrag im Vorsteuervergütungsverfahren unterliegt einer strengen Ausschlussfrist, die nicht zur Disposition der Beteiligten steht und unionsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Die verfahrensrechtlich vorgesehenen Fristen dienen der Rechtssicherheit. Dieser Zweck wäre unterlaufen, wenn die nach einer bestandskräftig abgelehnten Vorsteuervergütung durchgeführte Stornierung und Neuausstellung einer nicht den Mindestanforderungen genügenden Rechnung den Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Neuausstellung der Rechnung ermöglichen würde. Auf bestimmte Pflichtangaben, die das Dokument aufweisen muss, um als Rechnung zu gelten und damit berichtigungsfähig zu sein, geht der EuGH (anders als die Generalanwältin Kokott in ihrem Schlussantrag v. 22.4.2021, C-80/20, Tz. 96) nicht ein – vielmehr legt er eine weite Begriffsdefinition der Rechnung zu Grunde. Vor dem Hintergrund der Verwaltungsanweisung vom 18. 09.2020, mit der sich die Finanzverwaltung der gefestigten BFH-Rechtsprechung angeschlossen hat, bleibt es daher dabei, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann, sobald ein den gesetzlichen Mindestanforderungen genügendes Abrechnungsdokument vorliegt (BFH, Urt. v. 20.10.2016, V R 26/15; BMF-Schreiben vom 18.09.2020, Rz. 16).
Art. 167 und 178 Richtlinie 2006/112/EG
Art.14 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2008/9/EG
EuGH, Urteil vom 21.10.2021, Wilo Salmson, C-80/20
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