BFH: Anwendung des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz bei fehlender Eintragung einer Funktionsbezeichnung im Handelsregister
Sachverhalt
Aufgrund eines Wohnsitzes im Inland war der Kläger im Streitjahr (2012) unbeschränkt steuerpflichtig, § 1 Abs. 1 EStG i. V. m. § 8 AO. Zudem befand sich seine abkommensrechtliche Ansässigkeit i. S. d. Art. 4 DBA Deutschland/Schweiz in Deutschland. Er war bei einer schweizerischen Kapitalgesellschaft angestellt und als Chief Financial Officer (CFO) tätig. Seine Aufgaben beschränkten sich nicht ausschließlich auf Gebiete außerhalb der Schweiz. In der Schweiz wurde Quellensteuer gezahlt. Da der Kläger die 60 Nichtrückkehrtage im Streitjahr überschritt, kam es nicht zur Anwendung der Grenzgänger-Regelung des Art. 15a DBA Deutschland/Schweiz, die eine Besteuerung des Arbeitslohns in Deutschland vorgesehen hätte. Im Handelsregister wurde durch Beschluss des Verwaltungsrates das Zeichnungsrecht „Kollektivunterschrift zu zweien (einschließlich der Prokura)“ vermerkt. Die Funktion des Arbeitnehmers wurde hingegen nicht erfasst. Mangels Funktionsbezeichnung lehnte das Finanzamt die Anwendung des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz und damit die vollumfängliche Freistellung des Arbeitslohns von der deutschen Besteuerung ab. Es unterwarf vielmehr die Einkünfte entfallend auf Arbeitstage in Deutschland und Drittstaaten der inländischen Besteuerung. Einkünfte entfallend auf Arbeitstage in der Schweiz wurden von der Besteuerung ausgenommen und im Rahmen des Progressionsvorbehalts erfasst. Die nach einer Teileinspruchsentscheidung ergangene Klage hatte beim FG Baden-Württemberg Erfolg. Das FG entschied, dass § 19 Abs. 2 S. 2 der KonsVerCHEV so auszulegen sei, dass die Eintragung der Kollektivunterschrift zu zweien genügt, da sich hieraus eine Vertretungsmacht als Direktor bzw. Prokurist herleiten ließe. Eine zusätzliche Eintragung der Funktion sei aus diesem Grund nicht erforderlich.
Entscheidung
Der BFH stimmt der Ansicht des FG im Allgemeinen zu. Sowohl das FG als auch der BFH lassen die Anwendung des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz auch dann zu, wenn die jeweilige Funktionsbezeichnung nicht im Handelsregister genannt ist.
Hintergrund des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz
Die Bedeutung des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz liegt insbesondere in der Tätigkeit der leitenden Angestellten. Es handelt sich um Tätigkeiten, die vor allem am Sitz der Gesellschaft zum Tragen kommen und sich über die (externe) Vertretungs-/ Leitungsmacht der betreffenden Person definieren. Auch wenn der Personenkreis, für den Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz anwendbar ist, durch den Wortlaut der Regelung fest bestimmt ist, sind laut BFH aufgrund der Bedeutung der Vorschrift ebenfalls Tätigkeiten zu berücksichtigen, die in Bezug auf die Vertretungs-/ Leitungsmacht zivilrechtlich zu einer vergleichbaren Position führen. Vorliegend war durch die Eintragung der Kollektivunterschrift zu zweien eine Vertretungsmacht im Außenverhältnis als Direktor oder Prokurist anzuerkennen. Der Verwaltungsrat der Kapitalgesellschaft hat nach schweizerischem Recht sowohl die Möglichkeit der Übertragung seiner Vertretungsmacht an Mitglieder oder Dritte, d. h. Direktoren, als auch die der Bestellung von Bevollmächtigten und Prokuristen. Im Streitfall lag ebenfalls keine Handlungsvollmacht vor, die keiner Eintragung ins Handelsregister bedarf.
Verhältnis des § 19 Abs. 2 S. 2 KonsVerCHEV zu Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz
Der BFH wendet sich gegen die Schlussfolgerung des FG, dass eine Herleitung der Vertretungsmacht im Hinblick auf § 19 Abs. 2 S. KonsVerCHEV ausreichend sei; hält jedoch vor, dass § 19 Abs. 2 S. 2 KonsVerCHEV aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG (Vorrang des Gesetzes) als unwirksam zu betrachten sei. Der BFH begründet dies damit, dass § 19 Abs. 2 S. 2 KonsVerCHEV zu einer Ergänzung des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz führt. Da das DBA jedoch einem Gesetz gleichsteht und die KonsVerCHEV diesem Rang als Rechtsverordnung i. S. d. § 2 Abs. 2 S. 1 AO untergeordnet ist, dürfe diese keine weiterführenden Tatbestandsmerkmale, wie vorliegend die Eintragung einer Funktion, festlegen.
Ergebnis
Im Streitfall sind die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 4 DBA Deutschland/Schweiz erfüllt. Art. 15a DBA Deutschland/Schweiz war wegen Überschreitung der Nichtrückkehrtage nicht anzuwenden. Es lag eine Eintragung im Handelsregister vor, wobei die fehlende Funktionsbezeichnung unschädlich ist. Die Tätigkeit des Steuerpflichtigen war nicht nur auf Gebiete außerhalb der Schweiz begrenzt. Zudem erfolgte durch die Zahlung der Quellensteuer eine Besteuerung in der Schweiz. In Deutschland ist der Arbeitslohn demnach von der Besteuerung auszunehmen und lediglich im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 S. 2 DBA Deutschland/Schweiz i. V. m. § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG.
Betroffene Norm
Artikel 15 Absatz 4 DBA Deutschland/Schweiz
§ 19 Absatz 2 KonsVerCHEV
Artikel 20 Absatz 3 GG
§ 2 Absatz 2 AO
Vorinstanz
Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.2017, 3 K 2439/14.
Fundstelle
BFH, Urteil vom 30.09.2020, I R 60/17.
