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24.01.2012
Unternehmensteuer

EuGH: Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse nach Sitzverlegung

Sachverhalt

Die nach niederländischem Recht gegründete Gesellschaft National Grid Indus BV mit tatsächlichem Verwaltungssitz in den Niederlanden ist seit 1996 Inhaberin einer Forderung in Pfund Sterling gegen die National Grid Company plc, eine im Vereinigten Königreich niedergelassene Gesellschaft. Nach einer Steigerung des Kurses des Pfund Sterling gegenüber dem niederländischen Gulden entstand bei dieser Forderung ein nicht realisierter Kursgewinn. Im Dezember 2000 verlegte National Grid Indus ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in das Vereinigte Königreich. Nach dem Abkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerhinterziehung im Bereich der Einkommen- und Vermögensteuer musste National Grid Indus ab der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes als im Vereinigten Königreich ansässig betrachtet werden. Folglich hörte National Grid Indus auf, in den Niederlanden steuerpflichtigen Gewinn zu erzielen. Infolgedessen erstellten die niederländischen Steuerbehörden nach einer niederländischen Vorschrift eine Schlussrechnung über die latenten Wertzuwächse, die zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes dieses Unternehmens bestanden, und verlangten sofortige Zahlung.

National Grid Indus wandte sich gegen diese Entscheidung und machte geltend, dass sie gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit verstoße. Der Gerechtshof Amsterdam legte diese Frage dem EuGH vor.

Entscheidung

Das Unionsrecht steht grundsätzlich der Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft anlässlich der Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht entgegen. Die sofortige Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes der Gesellschaft, ohne der Gesellschaft die Möglichkeit zu bieten, die Zahlung des Steuerbetrags aufzuschieben, ist jedoch mit dem Unionsrecht unvereinbar.

Eine Gesellschaft nach niederländischem Recht, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz aus den Niederlanden wegverlegen will, erleidet im Vergleich zu einer ähnlichen Gesellschaft, die ihren Sitz in den Niederlanden belässt, einen Liquiditätsnachteil. Nach der nationalen Regelung zieht die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft niederländischen Rechts in einen anderen Mitgliedstaat die sofortige Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim verlegten Vermögen nach sich, während bei einer Sitzverlegung innerhalb des niederländischen Hoheitsgebiets solche Wertzuwächse nicht besteuert werden. Diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, eine Gesellschaft nach niederländischem Recht davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, und stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.

Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ist jedoch ein legitimes Ziel ist. Die Mitgliedstaaten bleiben in Ermangelung von unionsrechtlichen Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat kann nicht bedeuten, dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der unter seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss. Daher ist die streitige Regelung geeignet, die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung ist zwischen der Festsetzung des Steuerbetrags und der Einziehung desselben zu unterscheiden.

Es ist verhältnismäßig, dass der Herkunftsmitgliedstaat zur Wahrung seiner Steuerhoheit die Steuer bestimmt, die für die in seinem Hoheitsgebiet erzielten, aber nicht realisierten Wertzuwächse zu dem Zeitpunkt geschuldet wird, zu dem seine Besteuerungsbefugnis der betreffenden Gesellschaft gegenüber endet, im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes der Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat. Die eventuelle Nichtberücksichtigung der Wertminderung durch den Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Realisierung des betreffenden Vermögenswerts verpflichte den Herkunftsmitgliedstaat jedoch keineswegs, zu diesem Zeitpunkt eine Steuerschuld neu zu bewerten, die zum Zeitpunkt, zu dem die Steuerpflichtigkeit der betreffenden Gesellschaft im Herkunftsmitgliedstaat aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes endete, endgültig bestimmt wurde. Der Vertrag einer unter Art. 54 AEUV fallenden Gesellschaft garantiert nicht, dass die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat steuerneutral ist. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich kann eine solche Verlegung für eine Gesellschaft je nach dem Einzelfall steuerlich mehr oder weniger vorteilhaft oder nachteilig sein.

Eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt, ist aufgrund der Komplexität der Vermögenssituation der Gesellschaft unverhältnismäßig. Eine nationale Regelung, die die wahlweise Entscheidung durch die Gesellschaft zwischen einer sofortigen Zahlung des Steuerbetrags und einer Aufschiebung der Zahlung ermöglicht, wäre anzustreben.

Betroffene Norm

Art 49 AEUV

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 29.11.2011, Rs. C-371/10, National Grid Indus BV

Weitere Fundstellen

Pressemitteilung Nr. 128/11 des EuGH  vom 29.11.2011

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