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16.11.2012
Unternehmensteuer

BVerfG: Vertrauensschutz in den Fortbestand einer steuerrechtlichen Regelung

Die Neuregelung der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Streubesitzdividenden durch das UntStFG vom 20.12.2001 mit erstmaliger Anwendung für den Erhebungszeitraum 2001 stellt eine unechte Rückwirkung dar. Fälle unechter Rückwirkung sind unter Beachtung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich zulässig. Die Neuregelung wurde erstmals im Vermittlungsausschuss vom 11.12.2001 vorgeschlagen und ist nur verfassungswidrig, soweit sie bis einschließlich 11.12.2001 beschlossene und zugeflossene Vorabausschüttungen betrifft.

Sachverhalt
Die Gesellschafterversammlung der X-GmbH hat am 15.12.2001 eine Vorabausschüttung beschlossen; sie wurde am 17.12.2001 ausgezahlt. Die Klägerin, eine GmbH, ist im Streitjahr 2001 mit einer Beteiligungsquote von unter 10 % (Streubesitz) am Stammkapital der X-GmbH beteiligt. Nach der durch das UntStFG eingefügten Neuregelung sind Streubesitzdividenden bereits für den Erhebungszeitraum 2001 gewerbesteuerlich hinzuzurechnen (§ 8 Nr. 5 GewStG i.V.m. § 36 Abs. 4 GewStG i.d.F. des UntStFG vom 20.12.2001). Das FG Münster hat dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung vorliegt.

Entscheidung
Das rückwirkende Inkraftsetzen ist verfassungsgemäß, soweit es den Zeitraum nach dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11.12.2001 betrifft. Soweit hingegen bis einschließlich 11.12.2001 beschlossene und zugeflossene Vorabausschüttungen erfasst werden, ist dies unvereinbar mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und deshalb verfassungswidrig.

Die gewerbesteuerliche Hinzurechnungsvorschrift für Streubesitzdividenden wurde durch § 8 Nr. 5 GewStG (i.d.F. des UntStFG vom 20.12.2001) rückwirkend für den Erhebungszeitraum 2001 in Kraft gesetzt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum UntStFG hatte zu dieser Frage zunächst keine Regelung vorgesehen. Erst die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11.12.2001 enthielt die später Gesetz gewordene Vorschrift. Der Bundestag beschloss am 14.12.2001 entsprechend dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses, der Bundesrat stimmte am 20.12.2001 zu. Am 24.12.2001 wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet.

Eine echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig und liegt im Steuerrecht nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. zuletzt die Beschlüsse des BVerfG vom 07.07.2010). Die Änderung steuerrechtlicher Normen mit Wirkung für einen noch laufenden Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum ist der Kategorie der unechten Rückwirkung zuzuordnen und grundsätzlich zulässig. Sie ist grundsätzlich zulässig. Allerdings können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 07.07.2010). § 36 Abs. 4 GewStG i.d.F. des UntStFG ordnet die erstmalige Anwendung des 8 Nr. 5 GewStG i.d.F. des UntStFG für den noch nicht abgeschlossenen Erhebungszeitraum 2001 an und änderte die Vorschriften zur Ermittlung des zu versteuernden Gewerbeertrags im Sinne einer unechten Rückwirkung.

Ausschüttungen bei Streubesitzbeteiligungen sind typischerweise nicht Ausfluss einer Dispositionsentscheidung des Minderheitsgesellschafters, die besonderen Vertrauensschutz verdient. Der gewerbesteuerpflichtige Minderheitsgesellschafter trifft in diesen Fällen im Allgemeinen keine von ihm maßgeblich verantwortete Dispositionsentscheidung über die Gewinnausschüttung, die Vertrauensschutz begründen könnte. Sein Einfluss in der Gesellschafterversammlung dürfte allenfalls gering sein. Er wird die Entscheidung der Gesellschafterversammlung über das Ob und Wie einer Ausschüttung oder Vorabausschüttung daher regelmäßig lediglich hinnehmen.

Ab der Einbringung eines Gesetzentwurfs in den Bundestag können Steuerpflichtige nicht mehr uneingeschränkt darauf vertrauen, das gegenwärtig geltende Recht werde auch in Zukunft unverändert fortbestehen. Jedenfalls ab dem endgültigen Bundestagsbeschluss müssen die Betroffenen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen (BVerfG-Beschlüsse vom 07.07.2010). Es kann hier offen bleiben, ob die Einbringung eines Gesetzentwurfs im Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ stets der maßgebliche Zeitpunkt ist, ab dem sich die Betroffenen nicht mehr auf ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der bisherigen Rechtslage berufen können. In dem hier vorliegenden Fall war die rückwirkend in Kraft gesetzte Hinzurechnungsvorschrift erstmals in der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11.12.2001 enthalten. Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses entspricht hinsichtlich ihrer vertrauensbeeinträchtigenden Wirkung nicht nur einem Gesetzentwurf, sondern geht darüber hinaus. Die Annahme eines solchen Vermittlungsvorschlags durch den Bundestag ist regelmäßig erheblich wahrscheinlicher als die eines Gesetzentwurfs, weil der Vermittlungsvorschlag am Ende des parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesses einschließlich der Kompromissbemühungen des Vermittlungsausschusses steht und deren Ergebnis markiert. Schutzwürdiges Vertrauen in den künftigen Bestand der bisherigen Rechtslage besteht erst recht nicht mehr ab der Zustimmung des Bundestages zum Vermittlungsvorschlag des Vermittlungsausschusses vom 14.12.2001. Vorabausschüttungsbeschlüsse, die nach dem 11.12.2001 gefasst worden sind, genießen keinen verfassungsrechtlichen Schutz vor der Hinzurechnung der Vorabausschüttung zum Gewerbeertrag nach dem später in das Gewerbesteuergesetz eingefügten § 8 Nr. 5 GewStG. Der Vorabausschüttungsbeschluss in dem hier zugrunde liegenden Verfahren datiert vom 15.12.2001, liegt also zeitlich sowohl nach dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11.12.2001 als auch nach dem Gesetzesbeschluss des Bundestages vom 14.12.2001.

Betroffene Norm
§ 36 Abs. 4 GewStG, § 8 Nr. 5 GewStG, jeweils i.d.F. des UntStFG vom 20.12.2001
Streitjahr 2001

Vorinstanz
Finanzgericht Münster, Beschlüsse vom 01.09.2011 und 02.03.2007, 9 K 5772/03 G

Fundstelle 
BVerfG, Beschluss vom 10.10.2012, 1 BvL 6/07

Weitere Fundstellen
BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, siehe Deloitte Tax-News
BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010, 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, siehe Deloitte Tax-News
BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010, 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, siehe Deloitte Tax-News

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